Zeitschrift für befreiende Pädagogik - damals: Lernbehindert? Freie Schulen? SOLL ENTWURF BLEIBEN!
Dietlinde
Gipser
War
Aschenputtel lernbehindert?
oder:
Die
Legitimationskrise der Sonderpädagogik
"Wilde
Jungs ‑ brave Mädchen" ‑ das Thema einer
sonderpädagogischen GEW‑VDS ‑ Tagung (Dorum 1992) legt
im Alltagsverständnis sonderpädagogischen Handelns eigentlich
nahe, daß wir uns nur mit den Problemfällen, nämlich den
"wilden Jungs" zu beschäftigen hätten. Die "braven
Mädchen" hätten hier nichts zu suchen. Daß ein braves
Mädchen wie Aschenputtel aus dem bekannten Märchen dennoch
"SonderpädagogInnen" beschäftigen könnte, möchte
ich hier diskutieren und darauf aufbauend einige allgemeine
Betrachtungen zur Legitimationskrise der Sonderpädagogik
anstellen, Sonderpädagogik als Symbolisierung der Krise der
Pädagogik beschreiben und Auswege mittels einer befreienden
Pädagogik im Sinne Freires aufzeigen.
1.
War Aschenputtel lernbehindert?
Das
Märchen "Aschenputtel" (Cinderella im englischen
Sprachraum, französisch Cendrillon, italienisch La Gatta
Cenerentola ‑ die Aschenkatze) ist zweifelsohne das
bestbekannte Märchen auf der ganzen Welt und vielleicht auch das
beliebteste (vgl. Bettelheim 1985, S.275). In China wurde das
Märchen bereits im 9.‑ Jahrhundert aufgezeichnet, in der
westlichen Welt erstmals in Italien von Basile, wenig später von
Perrault in Frankreich, und dann von den Gebrüdern Grimm in
Deutschland vor 150 bis 200 Jahren.
Literaturwissenschaftler,
Psychologen, Psychoanalytiker, Pädagogen, auch Soziologen haben
sich mit Märchen auseinandergesetzt, interpretiert, gedeutet und
deren Funktion analysiert. Märchen gehören zum Grundstock
einer jeden Kultur; sie tragen menschliche Erfahrungen, Wünsche und
Hoffnungen aus uralten Zeiten ins heutige Bewußtsein, oft geeignet
zum Wiedererkennen eigener Befindlichkeit. Märchen spiegeln
typische, allgemein menschliche Situationen und Schicksale wider.
Und
so beginnt das Märchen (in der Grimm'schen Fassung):
Einem
reichen Manne, dem wurde seine Frau krank, und als sie fühlte, daß
ihr Ende herankam, rief sie ihr einziges Töchterlein zu sich ans
Bett und sprach: "Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir
der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich
herabblicken und will um dich sein." Darauf tat sie die Augen
zu und verschied. Das Mädchen ging jeden Tag hinaus zu dem Grabe
der Mutter und weinte ...
Ein
Mädchen, das täglich auf den Friedhof geht, an einem Grab weint,
ein Kind, dessen Seele gewissermaßen im Jenseits weilt, muß
verantwortungsvollen Fachleuten sofort zum Problem werden:
Wie
kann dieses Kind wieder Kontakt zur Wirklichkeit bekommen? Handelt
es sich vielleicht gar um nekrophile Neigungen? Welche Therapie wäre
am besten angezeigt?
Die
Gesprächstherapie könnte gleich einsteigen mit "Du bist
traurig, weil deine Mutti gestorben ist". Die
Verhaltenstherapie könnte ein
Anti‑Friedhofs‑Trainingsprogramm entwerfen.
Aber
wir ExpertInnen sind doch breit gefächert interessiert und gut
ausgebildet und fragen erstmal nach: Was ist denn Trauer? Was
bedeutet das Verhalten? Wir könnten bespielsweise meinen, daß
Trauern eine aktive ‑ wohl zu schätzende ‑ psychische
Beschäftigung ist. Daß sie nicht zu verwechseln sei mit
Depression, die heutzutage so weit verbreitet ist. Wir könnten
sagen, daß, wer zu trauern vermag, nicht blind gegen sich und
widrige Umstände wüten muß, aber doch der Hoffnung einen Platz in
sich bewahrt, an dem eines Tages wieder Leben gedeihen kann.
Sollten
wir das Mädchen vielleicht für eine Zeit doch trauern lassen?
Hören
wir ein Stück mehr von der Geschichte.
Als
der Winter kam, deckte der Schnee ein weißes Tüchlein auf das
Grab, und als die Sonne im Frühjahr es wieder herabgezogen hatte,
nahm sich der Mann eine andere Frau. Die Frau hatte zwei Töchter
mit ins Haus gebracht, die schön und weiß von Angesicht waren,
aber garstig und schwarz von Herzen. Da ging eine schlimme Zeit für
das arme Stiefkind an. "Soll die dumme Gans bei uns in der
Stube sitzen!" sprachen sie, "wer Brot essen will, muß es
verdienen: hinaus mit der Küchenmagd." Sie nahmen ihm seine
schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen alten Kittel an und
gaben ihm hölzerne Schuhe. "Seht einmal die stolze
Prinzessin, wie sie geputzt ist!" riefen sie, lachten und
führten es in die Küche. Da mußte es von Morgen bis Abend schwere
Arbeit tun, früh vor Tag aufstehn, Wasser tragen, Feuer anmachen,
kochen und waschen. Obendrein taten ihm die Schwestern alles
ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten ihm die
Erbsen und Linsen in die Asche, so daß es sitzen und sie wieder
auslesen mußte. Abends, wenn es sich müdegearbeitet hatte, kam es
in kein Bett, sondern mußte sich neben den Herd in die Asche legen.
Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es
Aschenputtel.
Uns
aufmerksamen MenschenfreundInnen kann es erstmal nur
mißfallen, daß ein Mädchen von früh bis spät so schwer
schuften muß: früh vor Tag aufstehen, Wasser tragen, Feuer machen,
kochen, waschen ... eigentlich schmeißt sie den ganzen
Haushalt, verrichtet alle lebensnotwendigen Tätigkeiten
... und wird verspottet. Das ist das alte, uralte Los der
Frauen. Die Frau ist Hüterin des Feuers, Gestalterin des Lebens,
aber ‑ wie Aschenputtel ‑ unbezahlt, unbedankt,
verachtet, verspottet, in Asche grau.
Warum
lehnt sich diese junge Frau, warum nicht jede andere in gleicher
Lage gegen ihre Unterdrückung auf? Hat sie vielleicht einen Defekt?
Eine Behinderung gar? War Aschenputtel lernbehindert? Könnte uns
die Lernbehindertenpädagogik da nicht weiterhelfen?
Legen
wir Heinz Bach's "Sonderpädagogik im Grundriß"
(1976) zugrunde: Nach Kanter (a.a.O., S. 106 f.) hat demnach
Aschenputtel folgende Sozialisationsmängel aufzuweisen wie "Mangel
an Zuwendung, emotionaler Wärme und Verständnis", "gestörte
oder unvollständige Familie", "seelische Traumen",
"geringe geistige Anregung", "geringe
Erwartungshaltung der Eltern", "negative
Einstellungen der Umwelt" etc., die zwangsläufig zu
Lernbehinderung führen: "Als lernbehindert i.e.S. werden
Personen bezeichnet, die schwerwiegend, umfänglich und
langdauernd in ihrem Lernen beeinträchtigt sind und dadurch
deutlich normabweichende Leistungs‑ und Verhaltensformen
aufweisen."
Dies
alles finden wir bei Aschenputtel ‑ vielleicht ist es sogar
eher geistigbehindert: "Als geistigbehindert gelten
Personen, deren Lernverhalten wesentlich hinter der auf das
Lebensalter bezogenen Erwartung zurückbleibt und durch
ein dauerndes Vorherrschen des anschauend‑vollziehenden
Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhalten und eine
Konzentration des Lernfeldes auf direkte Bedürfnisbefriedigung
gekennzeichnet ist ..." (Bach a.a.O., S. 92). Daher rührt dann
auch eine "dauernde Unterstützungs‑ und
Schutzbedürftigkeit".
Auf
jeden Fall ist Aschenputtel aber auch noch verhaltensbehindert und
‑gestört: es entspricht den von Bach (S. 140) beschriebenen
Erscheinungsweisen: "Mangelnde oder undifferenzierte
Kontaktaufnahmen und Bezugsverhältnisse, mangelnde soziale
Eingliederung, Kollisionen mit der Umwelt, ... Träumereien,
extreme Verstimmtheit, Schüchternheit, Überbravheit,
Ängstlichkeit ...".
So
haben wir nun mit Hilfe der traditionellen Sonderpädagogik
Aschenputtel eindeutig als mehrfachbehindert
diagnostiziert. Doch was fangen wir damit an? Gründen wir eine
besondere Schule für solche Mädchen? Sollen wir ein
spezielles Förderprogramm entwickeln, gar eines für Kinder
unbekannter kultureller Herkunft? Oder was sonst? Erklärt uns die
Klassifizierung überhaupt irgendetwas?
Aschenputtel
steht für alle Menschen, die aufgrund bestimmter Machtverhältnisse
unterdrückt werden. Und dann werden darüberhinaus noch bestimmte
negative Eigenschaften zugeschrieben ‑ wie es beim
Aschenputtel ganz deutlich wird: es hat gar keinen eigenen
Namen mehr, es wird als 'das' Aschenputtel, also als sächlich
klassifiziert, es schläft in der Asche am Herd, ist schmutzig und
damit auch faul, dumm und häßlich ‑ eindeutig
Etikettierungen, die zumindest in der Familie wirksam werden ‑
über die Identitätsprobleme von Aschenputtel können wir nur
Mutmaßungen anstellen. Aschenputtel wird von seiner
Stiefmutter und seinen Stiefschwestern erniedrigt und gedemütigt;
man läßt es die schmutzigste Arbeit verrichten, und obwohl es
seine Sache gut macht, weiß man ihm keinen Dank dafür, man
verlangt nur noch mehr von ihm.
Glücklicherweise
greift in diese Situation kein "Spezialist" ein, und
die Situation löst sich zuguterletzt positiv? auf ‑ mit
nicht unbeträchtlichen Eigenaktivitäten von Aschenputtel selbst:
sie bittet den Vater um den Haselzweig, den sie auf das Grab der
Mutter pflanzt, sie ruft die Täubchen um Hilfe bei der
Linsenauslese aus der Asche. Hildegunde Wöller, eine Theologin,
sieht im Märchen vom Aschenputtel den Mythos von der großen
Muttergöttin. "Und nicht nur dies. Ich meine zu sehen, daß
dieses Märchen den Untergang der matriarchalen Religion nicht
nur betrauert, sondern auch darüber nachsinnt, wie es in der so
veränderten patriarchalen Zeit nun weitergehen kann" (1985, S.
21). "Die demütigenden Erfahrungen, die Aschenputtel machte,
hätten Haß und Zorn leicht in ihr überhandnehmen lassen
können. Es ist eine fast übermenschliche innere Arbeit, die sie
leistet, und das dreimal täglich, wenn sie unter dem Baum all ihren
Kummer ablädt und sich mit aller Kraft auf die reine und reinigende
Kraft der Mutter einstimmt" (S. 51). So wird aus der stillen
Dulderin eine Kämpferin, wenn sie die Auseinandersetzung mit
der Stiefmutter aufnimmt ‑ auch wenn sie zunächst noch
unterliegt. Aber ihr hilft die Muttergöttin, und schließlich
läßt sie sich vom Königssohn gewinnen, dem sie es auch nicht sehr
leicht macht. Allerdings stellt Aschenputtel nie die gesetzten
Regeln in Frage. Die böse Stiefmutter wirft die Linsen in die
Asche. Aschenputtel muß sie wieder herauslesen, von Asche säubern
und die schlechten aussondern: die guten ins Töpfchen, die
schlechten ins Kröpfchen. Aschenputtel rechtet nicht über den Sinn
oder Unsinn der gestellten Aufgabe; sie macht, was befohlen
wurde.
Das
im Jahre 1981 erschienene Buch der Amerikanerin Colette Dowling "Der
Cinderella‑Komplex. Die heimliche Angst der Frauen vor
der Unabhängigkeit" war sofort ein Bestseller. Wie
Aschenputtel im Märchen stellt auch die heutige Frau noch ihre
Fähigkeiten in den Schatten, sie wartet auf den rettenden Prinzen ‑
sie leidet am Cinderella‑Komplex ‑ so die Aussage
Colette Dowlings. Es geht hier um den Wunsch nach Sicherheit,
der jegliche Kreativität und Eigenaktivität im Keime erstickt.
Hindernisse werden für unüberwindlich gehalten, und Grenzen
werden vorzeitig gezogen. Könnte sich hier nicht nicht auch die
Sonderpädagogik gefragt fühlen, helfend einzugreifen?
2.
Die Legitimationskrise der Sonderpädagogik
SonderpädagogInnen
sind für Behinderte zuständig. Wenn wir uns die verschiedenen
Definitionen von Behinderung ansehen, so können sie genausogut auf
die Beschreibung der gesellschaftlichen Situation von Mädchen und
Frauen angewandt werden. Dies gilt zum Beispiel für die Definition
durch das Bundessozialhilfegesetz, wonach Personen behindert
sind, "deren Aussichten, eine geeignete Beschäftigung zu
finden und beizubehalten infolge ihrer geistigen und
körperlichen Fähigkeit wesentlich gemindert sind" bis
hin zu einer der fortschrittlichsten Positionen, wie die von
Wolfgang Jantzen: "Behinderung ist somit in ihrer konkreten
Seite als Isolation von der Aneignung des gesellschaftlichen Erbes
zu begreifen, in ihrer abstrakten Seite unter kapitalistischen
Gesellschaftsbedingungen als nicht verwertbare
Arbeitskraft, als 'Arbeitskraft minderer Güte'." (Jantzen
1978, S.40). Ist es nicht verwunderlich, daß bislang von
Sonderpädagogen noch keine Sonderschulen für Mädchen gefordert
worden sind?
Daß
die Sonderpädagogik diese in ihrer Logik konsequente, eigentlich
aber absurde Idee noch nicht aufgegriffen hat, deutet darauf
hin, daß die Sonderpädagogik in Theorie und Praxis an ihre Grenzen
gelangt ist, was sich insbesondere auch in der Diskussion um die
Integration zeigt. Die vorherrschende Legitimationskrise der
Sonderpädagogik als Wissenschaft ist gekennzeichnet dadurch,
daß die Sonderpädagogik ein neues begriffliches Selbstverständnis
zu gewinnen versucht ‑ seit Jahren ‑ ohne ihre früheren
Positionen gänzlich aufgeben zu müssen, ohne die
grundsätzliche Kritik an der jahrzehntelang geübten
Legitimierung der Sondereinrichtungen durch einen statischen
Behinderungsbegriff folgenreich werden zu lassen und ohne damit
die Frage nach den veränderten erkenntnisleitenden Interessen
diskutieren zu müssen. "Weil sich die Probleme in Wirklichkeit
viel komplexer stellen, ist es nur sehr schwer zu durchschauen,
welche Konsequenzen eine umfassende Integrationspraxis
tatsächlich haben wird. Eines jedoch ist schon klar geworden: es
wird sehr schwer werden, nach einer so langen Zeit der Ausgrenzung,
das zu korrigieren, was mittlerweile zu einer Selbstverständlichkeit
geworden ist, nämlich die alltägliche Desintegration aller"
(Praschak 1991, S. 2).
Sonderpädagogik
in ihrer herrschenden Form krankt daran, gesellschaftliche
Probleme unhinterfragt als 'Aufgabe' zu übernehmen und sich
dann um Problemlösungen ausschließlich im zugewiesenen Rahmen zu
bemühen. Eine solche Sonderpädagogik kann keine validen
Erkenntnisse erreichen, weil sie außeracht läßt, daß die sog.
Tatsache, also die Vorfindlichkeit von Behinderungen, immer
schon eine hergestellte Tatsache ist, im Wortsinne nämlich eine
'Sache der Tat', eine gesellschaftlich und machtmäßig
herleitbare Tat des Definierens von Lebenskarrieren und
institutionellen Behandlungsformen.
Wenn
eine Theorie derartig hergestellte Besonderheiten erklären
will ohne die Tat der Herstellung, also ohne das Faktum, d.h. das
Gemachte der Tatsache von Behinderung in die Betrachtung
einzubeziehen, dann kann nur Unsinn oder Beliebiges das Ergebnis
sein.
Sagenhafte
Erklärungen können herauskommen, wenn wir mit den Kategorien
traditionellen sonderpädagogischen Denkens die Tatsache von
Linsen im Aschenkasten in unserem Märchen untersuchen, ohne in
Betracht zu ziehen, daß die Stiefmutter diese Mischung erst
hergestellt hat. Wie also kamen die Linsen und die Asche zusammen?
Diese Frage bleibt für jene kaum beantwortbar, die das Hergestellte
sozialer Verhältnisse nicht im Blick haben.
"Eine
... Heilpädagogik, die Verhaltensweisen untersucht und
behandelt, nicht aber die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen
den Verhaltensweisen, trägt dazu bei, die realen Verhältnisse
zu verschleiern und als willfähriges Werkzeug gesellschaftlicher
Sanktionierung normbezogener Abweichung durch sozialen Ausschluß
zu fungieren" (Feuser 1984, S. 265).
Historisch
betrachtet wollte es der Sonderpädagogik offensichtlich nicht
gelingen, sich aus dem eigenen Dilemma zu befreien, nämlich
einerseits der Persönlichkeitsentwicklung und der
gesellschaftlichen Eingliederung behinderter Menschen zu dienen,
andererseits aber meist das Gegenteil zu bewirken. Auf diesem Boden
konnten sich einzelne 'Sonderpädagogiken' gut entwickeln und
zu einem Alibi werden, sich mit den wirklichen Problemen sozialer
Randgruppen nicht tiefergehend beschäftigen zu müssen: weil die
Sonderpädagogik nur noch den Blick auf die einzelnen
'Behinderungsarten' richtete, wirkte sie immer isolierender. (vgl.
Praschak 1991, S. 8).
In
der jüngsten Vergangenheit erwies sich vor allem das Modell von
Heinz Bach als besonders richtungsweisend für die Sonderpädagogik.
Bach definiert Behinderung "als umfängliche, schwere und
langfristige Beeinträchtigung der Personalisation und
Sozialisation", die durch "unterschiedliche
Erziehungsmaßnahmen innerhalb einer Sonder‑, Förder‑,
Vorsorge‑ und Gesellschaftserziehung" aufzuheben sei
(Bach 1976, S. 11 f.). Eine ähnlich einflußreiche
Begriffsbestimmung legte Ulrich Bleidick vor, der seine
"Pädagogik der Behinderten" in der Weise zu begründen
versuchte, daß er das gesellschaftliche Phänomen Behinderung
als "intervenierende Variable des Erziehungsvorganges"
beschrieb, die als "Störung, Hemmung, Schaden oder
Defekt" zur Wirkung kommt. Sein zentraler Gedanke, daß die
Behinderung als "Schaden des Zöglings" gegeben sei und zu
einer "Erschwernis des Erziehungs‑ und
Bildungsprozesses" führe, machte für Behinderte eine
"besondere" Erziehung notwendig (Bleidick 1972, S.
193 f.). Bleidick lieferte so in erster Linie Kriterien für die
Zuordnung von Problemkindern und Schulversagern zu einer
Institution der Sondererziehung. Der immense Ausbau des
Sonderschulwesens ist der beste Beweis für diese Argumentation,
in deren Folge Menschen noch weiter ausgegrenzt wurden und die
Sonderpädagogik sich von der allgemeinen Pädagogik immer mehr
abspalten konnte. (vgl. Praschak 1991, S. 9).
3.
Behinderung als sozialer Tatbestand
Entgegen
der herkömmlichen sonderpädagogischen Sichtweise von
Behinderung als personenzentriert und defekt‑/defizitorientiert
gehe ich davon aus, daß Behinderung ein sozialer Tatbestand ist.
Eine gesellschaftliche Gegebenheit ist Behinderung
zumindest aus drei Gründen:
Erstens
ist Behinderung etwas Relatives (damit stimmen Repräsentanten
der Sonderpädagogik durchaus überein). Die Relativität der
Behinderung ist dadurch gesetzt, daß sie eine den Mitgliedern einer
bestimmten Gesellschaft ins Auge fallende Abweichung von ihren
eigenen Normalitätsvorstellungen darstellt.
Zweitens
ist Behinderung das Ergebnis gesellschaftlicher Interaktionen.
In diesen Interaktionen wird bestimmten Menschen die Eigenschaft der
Behinderung zugeschrieben. Dieser interaktionistische
Ansatz in der Theorie der Behinderung richtet sich gegen die
Selbstverständlichkeit, mit der die defektzentrierten Konzepte
Behinderung einzig als Eigenschaft bestimmter Individuen
definieren. Damit ist allerdings auch das Problem
gesellschaftlicher Macht berührt: Die Definitionsmacht der
sog. Normalen ist bei weitem größer als die Möglichkeit des
einzelnen, von der Norm in irgendeinem Punkt abweichenden
Individuums, sich gegen die Zuschreibung des umfassenden
Etiketts "behindert" zur Wehr zu setzen.
Drittens
bilden Behinderte eine z.T. sich selbst organisierende, überwiegend
jedoch von außen her abgegrenzte Gruppe, konkret: eine
Randgruppe der gegenwärtigen Gesellschaft. Dieser Begriff
impliziert, daß sie als sozial benachteiligte Minorität weniger
Subjekt als Objekt des gesellschaftlichen Geschehens sind,
Objekt nämlich der sozialen Fürsorge sowie ‑ was damit
zumeist unmittelbar verbunden ist ‑ der sozialen
Diskriminierung, gegen die ihnen keine eigenen Machtmittel zur
Verfügung stehen.
Unter
den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen ist zu
beobachten, daß nach dem Eintreten einer "Behinderung"
ökonomische und sozialpsychologische Deklassierungsprozesse
einsetzen. In dem Maße, wie die Anforderungen an die kognitiven und
sonstigen individuellen Voraussetzungen zur Teilnahme am
gesellschaftlichen Arbeitsprozeß steigen, wächst auch die
Zahl der sog. Behinderten. Ich kann, wenn auch überspitzt,
formulieren, daß die Gesellschaft in ihrem historischen Prozeß
aus sich heraus immer mehr "Behinderungen" erfindet.
Damit erhöhen sich auch die Zahl der Aussonderungsprozesse und
die Zahl der Institutionen, in denen irgendwie abweichende
Individuen als "Behinderte" zusammengefaßt werden.
Hinzu
tritt, daß mit der wachsenden Komplexität der Arbeitsprozesse auch
eine andere "Technologie" sich entwickelt und
verfeinert: das wissenschaftlich‑diagnostische
Instrumentarium zur Feststellung von Behinderungen.
Dadurch werden immer mehr und letztlich auch immer kleinere
Abweichungen vom sog. Normalverhalten auf eine besondere
Eigenart des betreffenden Individuums zurückgeführt: sie
verwandeln sich in eine ‑ als relativ stabil gedachte ‑
Qualität einer Person, die daraufhin als in irgendeiner Weise
"behindert" und demgemäß "therapiebedürftig"
etikettiert wird.
Die
Dialektik des wissenschaftlich‑technischen Fortschritts
wird hier unmittelbar sinnfällig: die Verfeinerungen des
diagnostischen Instrumentariums können zwar einerseits
präventiven Maßnahmen dienlich sein; andererseits erhöhen
sich dadurch die gesellschaftlichen Segregationsprozesse.
Integration
oder vielmehr Normalisierung beginnt dort, wo
Aussonderungsmaßnahmen vermieden werden. Das
heißt auch, daß die Institutionen geschlossen werden müssen,
in denen als "Behinderte" klassifizierte Personen
zusammengefaßt und dadurch vom gesellschaftlichen Geschehen
partiell abgeschnitten werden.
Gesamtgesellschaftlich
und natürlich auch pädagogisch gesehen erfordert das ein radikales
Umdenken: das gesellschaftliche Leistungsgefüge muß so verändert
werden, daß auch Menschen darin Platz haben, die ihm eigentlich
(noch) nicht gewachsen sind. Daraus folgt: wir brauchen einen
Kindergarten und eine Schule für alle Kinder, "in denen eine
allgemeine und integrative Pädagogik das Handeln bestimmt, um
in eine neue Phase des Zusammenlebens und ‑arbeitens eintreten
zu können" (Praschak 1991, S.10).
4.
Die Sonderpädagogik als Symbolisierung der Krise der Pädagogik
Die
Sonderpädagogik, die Tatsache, daß es Sonderpädagogik ‑
immer noch ‑ gibt, ist die Symbolisierung der Krise der
Pädagogik. Eine Pädagogik, die als Lehre von der Erziehung der
Menschen nicht von der Verschiedenheit der Menschen, die es zu
erziehen gilt, ausgeht, kann sich nur auf das Abstraktum "Wesen
Mensch" beziehen. Dieses Abstraktum wird jeweils aktuell
von der historisch und politisch herrschenden Definition vom
"Wesen Mensch" gefüllt. Wirksam ist bislang noch die
Definition von Mensch als Ware Arbeitskraft, bezogen auf den
industriellen Produktionsprozeß. Dieses Modell hat eigentlich
abgedankt. Der Stundentakt, in festen Schulstunden konserviert, ist
als Arbeitsqualifikation nicht mehr gesellschaftliche
Grundanforderung. An seine Stelle sind mittlerweile Flexibilität,
Kreativität, und teilautonome Selbstregulation der Individuen
getreten. Diese Kriterien für eine aktuelle Operationalisierung vom
"Wesen Mensch" resultieren aus den Anforderungen des
gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Selbst wenn wir somit nur
systemimmanent, also nicht einmal gesellschaftsvisionär
argumentieren, wird offensichtlich, wie antiquiert die
Prämissen des gegenwärtigen Schulsystems sind.
Im
Hinblick auf das Schulsystem fällt der Sonderschule vor allem die
Funktion der Entlastung zu, während sie gesamtgesellschaftlich
als Instanz sozialer Kontrolle fungiert, die dem potentiell
abweichenden bzw. systemwidrigen Verhalten von ökonomisch und
sozial unterprivilegierten Gruppen entgegenwirken soll.
Die
Krise der Pädagogik wird sichtbar in der Beibehaltung einer
Sonderpädagogik und ihrer sonderpädagogischen
Einrichtungen. Eigentlich ginge es um die Flexibilisierung der
allgemeinen Pädagogik, damit sie, den aktuellen Erfordernissen
einer humaneren Gesellschaft entsprechend, Erziehungsprozesse
für die Vielfalt von menschlichen Anliegen, Vorlieben und
Geprägtheiten nicht nur konzipierte sondern auch in die Praxis
umsetzte.
Eine
allgemeine Pädagogik, die den heutigen Ansprüchen genügte, müßte
sich orientieren an den Differenzierungen der Menschen nach
Geschlecht, sozialer und ethnischer Herkunft und individueller
Eigenheiten. Dieser Aufgabe hat sich die Erziehungswissenschaft
kaum gestellt. Sie ist gesellschaftlichen Prozessen
hinterhergelaufen und bemüht sich in beachtenswerter
Flickschusterei: da gibt es Integrationsversuche,
Diversionsversuche, Hochbegabtenförderung, Debatten um
interkulturelle Erziehung und neuerdings wieder Koedukation.
Insbesondere an diesem letzten Punkt wird deutlich, daß die Zeit
der Geschlechtsstereotype noch längst nicht vorbei ist, und daß
die Pädagogik kaum die bisherigen Erkenntnisse der
Frauenforschung aufgegriffen hat, wonach auch das Geschlecht jeweils
eine soziale Konstruktion mit einer entsprechenden sozialen
Plazierung darstellt (s. Metz‑Göckel/Kreienbaum 1991).
5.
Ausblick
Aschenputtels
Vater hatte, den Wunsch des Mädchens erfüllend, ein Hasel‑Reis
heimgebracht. Aus ihm wuchs ein Baum, wunderbare Sachen spendend.
Der Haselnußbaum galt als Baum der Weisheit, seine Früchte, sagt
die Legende, verleihen Schönheit und Wissen. Aber auch als
"Hexenstock" wurde er stigmatisiert. Aschenputtel
gab sich zur rechten Zeit einen Impuls zum Aufbruch aus Asche und
Unterdrückung. Der Haselnußbaum gab ihr die nötigen Mittel.
Wo
steht unser Baum?
Es
ist vielleicht noch kein Baum, aber wenn es ein Reis ist, dann kann
daraus noch etwas wachsen.
Die
Pädagogik wird als Regelpädagogik und als Sonderpädagogik
immer deutlicher versagen, wenn sie sich nicht auch die
aufgeworfenen Fragestellungen nach der Legitimierung von
Aussonderung mit ihren gesellschaftlichen Hintergründen
zueigen macht und Lösungsversuche weiterführt.
Wir
brauchen eine Pädagogik, die ‑ wie Paulo Freire ‑Erziehung
als "ein Instrument umgestaltenden Handelns" betrachtet,
"als politische Praxis im Dienste der permanenten menschlichen
Befreiung" (Freire 1971). Eine solche Pädagogik muß das
Verhältnis von SchülerInnen zu LehrerInnen und die Auswahl der
Lehrinhalte neu gestalten. Die LehrerInnen haben nicht mehr die
Aufgabe, fertiges Wissen in die SchülerInnen hineinzulagern,
wie wenn jemand ein Guthaben auf ein Bankkonto einlagert. Sie
sollen den SchülerInnen die Probleme verdeutlichen, die im
behandelten Gegenstand enthalten sind. Über ein Thema, einen
Text oder ein Bild treten LehrerInnen und SchülerInnen
miteinander in Beziehung. Die LehrerInnen helfen den SchülerInnen
die Probleme zu formulieren, die einen existenziellen Bezug zur
Lebenswelt der SchülerInnen und damit auch zu der der
LehrerInnen haben. Diese "problemformulierende" Methode
begründet einen Dialog zwischen LehrerInnen und SchülerInnen.
Sie arbeiten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Aufgabe. Der
Mythos von der Unwissenheit der SchülerInnen und von den
wissenden LehrerInnen läßt sich dabei allerdings nicht
aufrecht erhalten.
Mit
immer neuen Problemformulierungen im Dialog zwischen
LehrerInnen und SchülerInnen nähert sich der Erkenntnisprozeß
den zentralen Widersprüchen der konkreten Lebenslage. Sog.
"generative Themen" bündeln zentrale lebensgeschichtliche
Probleme brennpunktartig. Ihre Behandlung eröffnet Einsichten in
die eigene Lage und läßt bislang unerprobte
Handlungsmöglichkeiten zutage treten. Diese Themen können
gewiß nicht von wissenden LehrerInnen vorgegeben werden, schon
gar nicht von der Schulbehörde, sie müssen mit den SchülerInnen
herausgearbeitet werden, wobei die LehrerInnen ihre Kenntnisse
und ihre Lebenserfahrung mit einbringen.
Der
aggressive Schüler, die schweigende Schulversagerin ‑
sie werden nicht so ohne weiteres das Angebot von Dialog
akzeptieren. Zu oft wurden sie hinters Licht geführt und
antidialogisch zugerichtet. Aber kein anderes Mittel kann da
weiterhelfen als das echte Angebot eines Dialogs, der zu allererst
die Aggression und das Schweigen und ihre Ursachen thematisiert.
Kann
für SchülerInnen ihr "Schweigen" generatives Thema
sein, so könnte für Studierende z.B. "Prüfungsangst",
für Lehrende möglicherweise "Konkurrenz" oder auch
"die Angst des Lehrers vor dem Schüler" zentrales
Anliegen ihrer Lage sein.
Die
Ermittlung der generativen Themen ist Forschungsprozeß und
dialogische Interaktion zugleich. Der Phantasie in der Auswahl der
Vorgehensweisen sind keine Grenzen gesetzt. Ausschlaggebend
sind allein die Auslotung des gesamten Problemfeldes, die
Auflösung festkodierter Weltinterpretationen, die ein Teil der
Unterdrückung durch vorherrschende Ideologien sind, und die
kollektive Erarbeitung von Veränderungsmöglichkeiten, sowohl
im eigenen Handlungsbereich als auch in den engeren und
weiteren Bedingungen der Lebenswelt.
Ihr
saht das Übliche, das immerfort Vorkommende.
Wir
bitten euch aber:
Was
nicht fremd ist, findet befremdlich!
Was
gewöhnlich ist, findet unerklärlich!
Was
da üblich ist, das soll euch erstaunen.
Was
die Regel ist, das erkennt als Mißbrauch
Und
wo ihr den Mißbrauch erkannt habt
Da
schafft Abhilfe!
BRECHT
Literatur:
Bach,
Heinz: Sonderpädagogik im Grundriß, Berlin 1976
Bettelheim,
Bruno: Kinder brauchen Märchen, Reinbek 1985
Bleidick,
Ulrich: Pädagogik der Behinderten, Berlin 1972
Dowling,
Colette: Der Cinderella‑Komplex, Frankfurt 1981
Feuser,
Georg: Stichwort "Heilpädagogik", in: Reichmann, E.:
Handbuch der kritischen und materialistischen
Behindertenpädagogik, Oberbiel 1984
Freire,
Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Stuttgart 1971
Gipser,
Dietlinde: Für ein Theater der Befreiung. Paulo Freire und Augusto
Boal, in: Dabisch, J. / Schulze, H. (Hg.): Befreiung und
Menschlichkeit. Texte zu Paulo Freire, München 1991
Jantzen,
Wolfgang: Behindertenpädagogik Persönlichkeitstheorie
Therapie, Köln 1978
Metz‑Göckel,
Sigrid / Kreienbaum, Maria Anna: Herkömmliche
Geschlechterpolarisierung und neue Differenzierungen, in: päd.extra
12/1991
Praschak,
Wolfgang: Die Grenzen der Sonderpädagogik, vervielf. MS,
Hannover 1991, veröffentlicht in: Behindertenpädagogik Heft 2, 30.
Jg., 1991
Wöller,
Hildegunde: Aschenputtel, Zürich 1985
Arnold
Köpcke‑Duttler
Die
Förderung Freier Schulen.
Einige
Gedanken zum Recht der Vielfalt im Schulwesen.
Einleitung
Wo
nicht mehr die Welt selbst die Schule des Menschen ist, in
eingeengter Perspektive die Schule in ihrer Funktion an den
Staat gebunden wird, maßt dieser sich die "Rolle des obersten
Erziehers im gesamten Bildungswesen" an.1
Eltern‑ und Kindesrechte werden zurückgedrängt, die
Schulpflicht dominiert, ausgerichtet an der Funktionsfähigkeit
dieser staatlichen Anstalt, Grund‑ und Menschenrechte. Die
allgemeine Schulpflicht beschränkt ‑ so das
Bundesverfassungsgericht ‑ das in Artikel 6 Absatz 2 Satz 1
Grundgesetz gewährleistete elterliche Bestimmungsrecht
über die Erziehung des Kindes. Verfassungsrechtlich anzuerkennen
sei der staatliche Erziehungsauftrag, der dem wohlverstandenen
Interesse des Kindes diene.2
Wiederum statuiert Art. 26 Abs. 3 der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte das Recht der Eltern, die Art der
ihren Kindern zuteil werdenden Bildung zu bestimmen. Nach Art. 13
des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und
kulturelle Rechte besteht die Freiheit der Eltern auch darin, eine
andere als die staatliche (öffentlich genannte) Schule zu wählen,
die religiöse und sittliche Bildung ihrer Kinder in
Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen
sicherzustellen, wobei der Staat allenfalls bildungspolitische
Mindestnormen festlegen darf. Schulpflicht, gar Schulzwang,
verletzt dann nicht allein das Elternrecht, sondern auch das Recht
eines Kindes auf Bildung, ein Menschenrecht (s. Art. 26 Abs. 2 der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948).
Paulo
Freire hat selber in den vierziger Jahren im Grundschulbereich
gearbeitet. Er hat die Schule als Instrument des Herrschaftsapparats
erlebt und auch als einen Teil gesellschaftlicher Praxis, in
dem Widerstand geleistet werden kann, an dem eine Pädagogik
des Widerstands entsteht.3
Erfüllt sie oft die Rolle einer Selektionsmaschinerie für die
Gesellschaft, eine Ausleseanstalt, so kann sie nach Freire doch zu
einer "escuela popular" werden mit Hilfe einer Theorie der
Pägagogik, die eine Praxis der Transformation der Realität
vorschlägt und eine Vielzahl von Fragen4
öffnet (Schule des Fragens). Als besondere Schwierigkeit staatlich
veranstalteter Schulbildung entdeckte Freire, daß vorgefertigte
Lehrpläne und Schulbücher verwendet werden müssen ‑ im Sinn
einer Kontrolle der Inhalte des Schulunterrichts und einer
Vereinheitlichung der Bildung. Dagegen soll sich die politische
Autonomie der einzelnen Schule richten, wobei Autonomie nicht
als Isolierung der Schulen im Gemeinwesen verstanden wird,
sondern "als Recht, die Entscheidungspositionen aufgrund eines
internen Konsens zu besetzen, autonom über Schulfragen mit
selbstbestimmten Instrumenten im Schulrat, der Eltern,
Schüler, Funktionäre und Lehrer zusammenführt, zu entscheiden,
die Einführung des Kollegialitätsprinzips und die Abschaffung
der autoritär strukturierten Schulverfassung."5
Die Autonomie der Schule stelle nicht eine allgemeine Harmonie her,
sondern provoziere die Veränderung, suche Auseinandersetzung
und Tumult. Schulen sollen die Offenheit des Dialogs ermöglichen,
das Recht, offen zu sprechen, fördern, die Kritik der
gesellschaftlichen Verhältnisse voranbringen.
Plädoyer
für die Freie Schule
Paulo
Freire protestiert gegen jeden Versuch, Schüler zu Behältern
herabzuwürdigen, die vom Lehrer gefüllt werden müssen.
Wissen entstehe nur durch Erfindung und Neuerfindung, in der
ruhelosen und von Hoffnung gehaltenen Praxis. In ihrem "Drang
nach Versöhnung" will die befreiende Bildungsarbeit die
kreative Kraft der Schüler steigern. Das "Bankiers‑Konzept"
erniedrigt Menschen zu Automaten und verleugnet ihre
wesensmäßige Bestimmung, "vollkommener menschlich"
zu werden in ungeduldiger Suche. Der humanistische und
revolutionäre Erzieher muß sich nach Freire zusammen mit seinen
Schülern bemühen, sich in kritisches Denken einzuüben und die
gegenseitige Vermenschlichung zu wagen, erfüllt von einem Vertrauen
in die Menschen und in ihre schöpferische Kraft.6
Der "schlechte Schüler" Frei Betto, der sich selbst als
Opfer des zu seiner Zeit herrschenden Erziehungssystems
versteht, faßt in seinem Gespräch mit Freire die Schule des Lebens
in der ihm wichtigsten Lektion zusammen, in einem Traum von der
Zukunft, in der die Forderung nach Gerechtigkeit keine Beschränkung
der Freiheit bedeutet und die Fülle der Freiheit keinerlei
Einschränkung des Bedürfnisses nach Gerechtigkeit.7
Der Übermensch dagegen schmälert die Rechte anderer Menschen,
verletzt Menschen, die Mit‑Schöpfer sein können und stellt
Untermenschen her, indem er Menschen auf die Bedingungen ihrer
Unter‑Menschheit reduziert8,
sie auf Hunger und Entrechtung zurichtet.
Die
Kritik der staatlich organisierten Schulen in Deutschland lehnt sich
auf gegen staatliche Herrschaftsrechte an der Schule; proklamiert
wird ein "Menschenrecht auf Schulvermeidung",
das Recht eines jeden Menschen auf Bildung außerhalb von
Schulpflicht und staatlichem Zwang, das Recht, sich nicht einfügen
zu lassen in die Ausprägung des öffentlichen (= staatlichen)
Schulwesens als eines Teils jenes Prozesses, in dem zentralistische
Nationalstaaten sich etablieren.9
Die Zurückdrängung des Kirchenmonopols durch ein Staatsmonopol
kombinierte nicht allein Militärdienst‑ und Schulpflicht,
sondern verwandte die letzten als Mittel, die Erziehung zum
Untertan durchzusetzen.10
Die Verstaatlichung der Bildung verband sich mit einem Prozeß der
Verschulung, der Verwaltung der Schule, der Produktion des
"Untertans Kind" (Carl‑Heinz Mallet).
In
seinem "Plädoyer für die freie Schule" betont Hellmut
Becker das Verlangen nach Autonomie der Schule und nach einer
größeren pädagogischen Freiheit. Eigentliche Basis der
pädagogischen Freiheit sei die Notwendigkeit des Dialogs. Von daher
widerspricht der Jurist und Bildungsforscher dem Bildungsmonopol
des Staates und dem staatlichen Schulzwang. In der politischen
Schuldiskussion erscheine die Doppeldeutigkeit des
Freiheitsbegriffs als Freiheit vom Staat und Freiheit von
gesellschaftlich übermächtigen Einflüssen. Die Schule in
freier Trägerschaft auf nicht‑konfessioneller Grundlage
bilde den notwendigen Sauerteig im deutschen Bildungswesen.
"Die Freiheit der freien Schule besteht nicht nur in der freien
Schüler‑ und Lehrerwahl, sondern auch in der Freiheit
des curricularen Angebots und der Unterrichtsmethodik... Schon
die Weimarer Verfassung, mehr noch aber das Grundgesetz, haben die
verstärkte Freiheit in Aufbau und Inhalt der Schulen in freier
Trägerschaft garantiert. Das hatte zur Folge, daß sich die
Bestrebungen zur Veränderung des traditionellen
Schulwesens häufig des Mittels der Gründung von Schulen in freier
Trägerschaft bedient haben."11
Die
Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages hat ebenfalls
einer verstärkten Autonomie der Schule das Wort geredet in ihrem
Entwurf eines Schulgesetzes.12
Das Grundgesetz wurde interpretiert als Proklamation eines
vielfältigen Schulwesens, der Stärkung der Partizipation
der Lehrer, Schüler und Eltern an den schulischen
Entscheidungsprozeduren. Die Tradition der pädagogischen
Freiheit und die "Tradition der Schule als einer
hierarchischen, in sich durchbürokratisierten Staatsanbindung"
(Becker) stehen gegeneinander. Das Plädoyer für die Vielfalt der
Schulen erkennt an, daß Bildung und Schule öffentliche Aufgaben
sind, daß jede Schule in öffentlicher Verantwortung steht.
"Die freie Initiative darf nicht auf die privaten Schulen
beschränkt bleiben. Wenn alle Bildung öffentlich ist, dann kann
alle Bildung sich nur in Freiheit vollziehen. Öffentliche Schule
muß daher auch freie Schule sein. Staatliche Schule und Schule
in freier Trägerschaft sollen in derselben Freiheit arbeiten
können."13
Auch der Staat soll individuelle Mündigkeit, die zugleich Einsicht
in die eigene Verantwortung und "Zuwendung zum Nächsten"
ist, durch Bildung, Kultur und Mitwirkung ermöglichen. "Der
Staat muß eben Chancen für Betätigung von Mündigkeit
gewähren und so der Mündigkeit stetige 'Weiterbildung'
ermöglichen: Zunächst durch vielfältige Teilhabe an staatlichen
Entscheidungsprozessen, aber auch durch die Gewährleistung von
Teilhabe an 'gesellschaftlichen' Verfahren, deren Ergebnisse
für den Bürger von existentialer Bedeutung sein können: an
Entscheidungsprozesse in Schulen, Universitäten, Unternehmungen, je
nach Maßgabe der jeweiligen Entscheidungs‑Fähigkeit
..."14
Wird staatlichen Einrichtungen oft Bürokratisierung
vorgeworfen, so privaten Initiativen die Durchsetzung eines
elitären Anspruchs, eines anmaßenden Privilegs. Gegen die
Abstraktion dieses Widerspruchs stellt Becker die These auf, daß
Bildung wegen ihrer sozialen Bedeutung immer eine öffentliche
Angelegenheit ist, daß sie eine res publica bleibt, ob sie nun
staatlich oder privat organisiert ist. "Jeder Bildungsvorgang
in einer Demokratie besitzt öffentliche Relevanz."15
Bildung besitze eine öffentliche Funktion; dieser Bereich
öffentlicher Verantwortung müsse sich sein Recht erst
schaffen.16
Auch Pädagogen raten, die Kennzeichnung der nichtstaatlichen öffentlichen Schulen als private Ersatzschulen aufzugeben. Die Gleichsetzung von staatlich gleich öffentlich und nichtstaatlich gleich privat sei falsch. Schulen in freier Trägerschaft seien genauso öffentlich wie staatliche Schulen.17 Das Freie Schulwesen solle die Erziehung der normierenden Bestimmungsgewalt des Staates entwinden, von einer "staatlich verordneten Humanität" (Clemens Menze) weg die Bildung als "heiligstes Menschenrecht" (Carl August Zeller) respektieren. Die Freie Schule soll entgegen einer versteinerten Staatsschule die Vielfalt pädagogischer Möglichkeiten öffnen, Eigeninitiative und Spontaneität fördern. "Ein inhaltlich weitgehend bestimmtes staatliches Schulwesen mit einem starken Ausschließlichkeitsanspruch widerspricht der immer proklamierten Mündigkeit des Bürgers mit seinem Recht auf individuelle Bildung."18 Das Bildungsmonopol des Staates muß also um der Bildung willen eingeschränkt werden. In diesem Sinn betrachtet Georg Picht die Freien Schulen wegen des Reichtums ihrer Motivationen und Erfahrungen, ihrer erzieherischen Gehalte und der Vielfalt ihrer Formen als wesentlichen Bestandteil des deutschen Bildungswesens, als Sektor des öffentlichen Bildungswesens einer demokratischen Gesellschaft. Gerade in Deutschland ‑ vor allem auf dem Gebiet des Schulwesens ‑ sei die Demokratie bedroht durch eine ungebrochenen Tradition obrigkeitsstaatlichen Denkens, durch ein Übergewicht des Staates. "Die Freien Schulen bilden ein Gegengewicht gegen die mächtigen totalitären Tendenzen, die hier noch längst nicht überwunden sind."19 Die Quellen pädagogischer Innovation und das freie Schulwesen sind aus der Starrheit abministrativer Strukturen zu befreien, vor Gleichschaltung und finanzieller Auszehrung zu schützen.
Finanzielle
Förderung Freier Schulen
In
diesem Teil möchte ich mich rechtlichen Fragen der finanziellen
Förderung Freier Schulen zuwenden.
Das
Bundesverwaltungsgericht hat in seinem die Privatschulfreiheit
betreffenden Urteil vom 17.03. 198820
betont, in Art. 7 Abs. 4 Grundgesetz gründe eine
sozialstaatliche Pflicht, die den Ländern aufgebe, das private
Ersatzschulwesen neben dem öffentlichen Schulwesen zu fördern
und in seinem Bestand zu erhalten. Der Ersatzschulträger habe eine
grundrechtliche Position, ihm komme von Verfassungs wegen das
Recht zu, am staatlichen Schutz durch materielle Hilfen beteiligt zu
werden, die es ermöglichen, die Institution des Ersatzschulwesens
zu erhalten. Sein eigenes Interesse daran, daß dem Ersatzschulwesen
diejenige staatliche Hilfe zuteil werde, die es zu seiner Erhaltung
als Institution benötige, sei grundrechtlich geschützt.
Diese
Grundrechtsverbürgung der Privatschulfreiheit verpflichtet den
Landesgesetzgeber nicht nur, das Ersatzschulwesen gegen seine
rechtliche Abschaffung oder Aushöhlung zu sichern, sondern
darüber hinaus, das Ersatzschulwesen als Institution im Raum
der Gesellschaft tatsächlich lebensfähig zu erhalten.
Allerdings
will dieses Urteil nur eine evidente Bedrohung des
Ersatzschulwesens abwehren; in anderer Hinsicht stimmt es dem
Verwaltungsgerichtshof München (Urteil vom 18.12. 1985) zu,
das den erfolgreichen Abschluß von zwei Schuljahrgängen
als zusätzliche Förderungsvoraussetzung für rechtmäßig gehalten
hatte. Die sogenannte Karenzzeit wurde also damals noch als
verfassungsmäßig anerkannt mit der Folge einer vehementen
Einschränkung der Freiheit, Freie Schulen zu gründen.
Auch
in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 08.04.198721
heißt es zwar, dem Staat sei die Pflicht auferlegt, das private
Ersatzschulwesen zu schützen. Eine aus der Schutzpflicht
folgende Handlungspflicht werde aber erst ausgelöst, wenn das
Ersatzschulwesen in seinem Bestand bedroht sei. Dieses Urteil
bezieht sich im übrigen auf das Privatschulgesetz der Freien
und Hansestadt Hamburg vom 12.12.1977.
Den
Kern dieser freiheitsbeschränkenden Argumentation hat in
letzter Zeit noch Peschke herausgearbeitet, indem er gegen die
"Apologeten des Privatschulwesens" feststellt, die
verfassungsrechtliche Schutz‑ und Förderungspflicht
des Staates orientiere sich am Bestand des Ersatzschulwesens
als Institution und beziehe sich nicht auf die einzelne Schule.
Diese habe kein einklagbares Recht auf Förderung. Gründungs‑
und Aufbaukosten müsse der Ersatzschulträger allein
übernehmen; die verfassungsrechtliche Förderungspflicht
gestatte eine Karenzzeit in der Aufbauphase und zwinge den Staat
nicht zu finanzieller Förderung bereits vom Zeitpunkt der
Betriebsaufnahme an. Im Interesse des Gemeinwohls sei es zulässig,
begrenzt zur Verfügung stehende öffentliche Mittel für andere
wichtige Gemeinschaftsgüter einzusetzen und finanzielle
Zuwendungen für Ersatzschulträger entsprechend zu kürzen.22
In der Tat zeigt diese neuere Abhandlung das große
Spannungsfeld der schulrechtlichen Diskussion über die
finanzielle Förderung freier Schulen auf.
In
neueren Entscheidungen nun entnimmt das Bundesverfassungsgericht
der Errichtungsgarantie für Schulen in freier Trägerschaft und den
Genehmigungsvoraussetzungen für Ersatzschulen in Art. 7 Abs. 4
Grundgesetz eine verfassungsrechtliche Leistungspflicht des
Staates gegenüber Trägern von Ersatzschulen. Dabei ist auch
das Argument von Bedeutung, das Schulgeld müsse so bemessen sein,
daß eine Ersatzschule grundsätzlich allen Bürgern ohne Rücksicht
auf ihre persönlichen finanziellen Verhältnisse offenstehe.
Zu sprechen ist also von einer "sozialstaatlichen
Einstandspflicht."23
Diese
Andeutungen der rechtlichen Streitigkeiten über die finanzielle
Förderung öffnen die verfassungsrechtliche Frage, wie
Leistungs‑ oder Teilhaberechte aus Freiheitsrechten, die
generell als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden werden,
abgeleitet werden können. Auf einer menschenrechtlichen
Ebene führt Vogel die öffentliche Finanzhilfe zurück auf jene
Privatschulgarantie, die nicht nur als Abwehr vom staatlichen
Schulmonopol verstanden wird, sondern darüber hinaus als
Bekenntnis zur Vielfalt im Schulwesen und zur Selbstbestimmung der
freien Träger.24
Dieses Bekenntnis bilde ein Prinzip der Verfassung insgesamt.
Falckenberg
hebt die Verpflichtung des Staates hervor, dafür zu sorgen, daß
das Privatschulwesen nicht zum Erliegen kommt, sondern seine
eigenständige Bedeutung voll entfalten kann. Dabei habe der
Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, der die
Haushaltsgegebenheiten nicht unbeachtet lassen dürfe.25
Gegen diese Betonung des Eigenstands und der Selbstgestaltung
richtet der Bayerische Verfassungsgerichtshof26
seine Entscheidung, im Mittelpunkt stehe der Bestand des
Privatschulwesens als Institution, ein unmittelbarer Anspruch
der einzelnen Privatschule aus Art. 134 Abs. 2 Bayerische
Verfassung und Art. 7 Abs. 4 Grundgesetz sei abzuweisen.
Wiederum sagen andere Schulrechtler, daß freien Schulen eine ihrer
Eigenart entsprechende Verwirklichung verfassungskräftig
gesichert sein muß.27
Nach
dieser knappen Skizzierung der kontroversen Diskussion über die
finanzielle Förderung Freier Schulen ist auf zwei neue
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen. In
dem Beschluß vom 09.03.1994 heißt es, der Staat müsse Vorsorge
dagegen treffen, daß das Grundrecht des Art. 7 Abs. 4 GG wegen der
darin enthaltenen Anforderungen praktisch kaum noch wahrgenommen
werden könne. Insofern könne sich aus diesem Grundrecht ein
Anspruch auf staatliche Förderung privater Ersatzschulen ergeben.
Wartefristen vor Einsetzen der staatlichen Finanzhilfe seien
mit der staatlichen Schutz‑ und Föderpflicht grundsätzlich
vereinbar. Die Förderung müsse jedoch insgesamt so
ausgestaltet sein, daß sich die Wartefrist nicht als Sperre für
die Errichtung neuer Schulen auswirke. Der Staat habe die
Anforderungen an die Gleichwertigkeit privater Schulen
fortlaufend verschärft und den Standard seiner eigenen
schulischen Einrichtungen gehoben. Die privaten Ersatzschulen, die
sich diesem Standard anpassen müßten, könnten die erforderlichen
erheblichen Kosten nicht in vollem Umfang über Schulgelder decken.
Zudem dürften sie eine Sonderung der Schüler nach den
Besitzverhältnissen der Eltern nicht vornehmen (Art. 7 Abs. 4
Satz 3 GG). Solle die Privatschulfreiheit nicht leerlaufen, schulde
der Staat deshalb einen Ausgleich für die vom Grundgesetz
errichteten Genehmigungshürden. Angesichts des von der Verfassung
gebotenen "schulischen Pluralismus" müsse die staatliche
Förderung sicherstellen, "daß Schulträger, die sich
ihrerseits finanziell für ihre besonderen pädagogischen Ziele
zu engagieren bereit sind, die Genehmigungsanforderungen
des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4 Grundgesetz auf Dauer erfüllen
können."29
Eine volle Übernahme der Kosten sei freilich nicht geboten.
Der Staat dürfe sich an den Kosten des öffentlichen Schulwesens
orientieren; eine bessere Ausstattung als vergleichbare öffentliche
Schulen könnten die Ersatzschulen nicht beanspruchen. Einen
verfassungsunmittelbaren Anspruch auf Gewährung staatlicher
Finanzhilfe, gar noch in bestimmter Höhe, gebe es nicht. Damit kann
einerseits auf Schulfinanzierungsgesetze der Länder verwiesen
werden, andererseits der Schutzanspruch begrenzt werden auf die
Schutz‑ und Förderpflicht, die wiederum den politischen
Handlungsspielraum bestimmt. Nach Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts bezieht sich der gerichtliche Rechtsschutz
auf die Prüfung einer Untätigkeit, einer groben Vernachlässigung
und eines ersatzlosen Abbaus getroffener Maßnahmen.
Der
zweite Beschluß vom 09.03.1994 erklärt mit Art. 7 Abs. 4 Satz 1
unvereinbar, bei der staatlichen Finanzhilfe für
Ersatzschulen die Kosten für die Beschaffung der erforderlichen
Schulräume völlig unberücksichtigt zu lassen.30
Die Beschlüsse zeigen einen großen Spielraum der
Ländergesetzgebung auf. Keinesfalls darf eine Besserstellung
der privaten Schulträger im Vergleich mit gleichartigen
öffentlichen Schulen erfolgen.
Andererseits
ist angesichts des Grundrechts der Privatschulfreiheit anzumahnen,
daß die Förderungspflicht an die Genehmigungsvoraussetzungen
des Art. 7 Abs. 4 GG geknüpft ist, die Förderung sich auf den
Aufwand beziehen muß, der zur Erfüllung der
Genehmigungsvoraussetzungen erforderlich ist31,
also zur Verdeutlichung des "besonderen pädagogischen
Interesses", des eigenen pädagogischen Gesichts. Was den
Umfang der finanziellen Förderung betrifft, so ist darauf zu
beharren, daß sie die Erfüllung der Genehmigungsvoraussetzungen
auf Dauer sicherstellen soll. Vogel redet hier von einem
Grundbedarf, während das Bundesverfassungsgericht lange
mißverständlich von einem "Existenzminimum"
gesprochen hat.32
Vogel fragt also in die Richtung, wie weit Finanzhilferegelungen der
Förderung der Funktion Freier Schulen dienen, das staatliche
Schulwesen zu bereichern durch vielfältige, gelichwertige
Angebote und auch zu kritisieren.
Über
die Schulkritik hinaus
Die
finanzielle Förderpflicht des Staates (auch Grund- und
Hauptschulen in freier Trägerschaft gegenüber, s. Art. 7 Abs.
5 GG) geht darauf, daß jeder Mensch die freie Wahl zwischen
staatlicher Schule und Schule in freier Trägerschaft hat, in jedem
Fall dann, wenn es sich um Schulen in freier Trägerschaft mit
einer pädagogischen Prägung handelt, die sich im staatlichen
Schulsystem nicht findet.33
Ivan Illich hat seine Kritik der Erziehung und der Schule verbunden
mit der Kritik an Entwicklungsvorhaben der Reichen in Ländern der
sogenannten Dritten Welt. Er stellt damit freilich die Menschen
nicht allein vor die Wahl zwischen zwei Schulformen. Die Gewalt der
Schule und jener Erziehung wird wahrgenommen, die immer mehr
Menschen aus ihrer Subsistenz herauszieht, in geringwertige
Lohnarbeit und breite Schattenarbeit hineinzwingt. Auf der
Suche nach Entschulung und Entziehung verweist Illich auf eine
früher in Spanien verbreitete freie und eigene Form der
Gerichtsbarkeit eines jeden Tals, die jeder Ort auch gegen die
königliche Gerichtsbarkeit verteidigen konnte. Aus der Sphäre des
Rechts heraus wird als Überschreitung der Erziehung das Forum
seitens einer Gemeinschaft proklamiert, der Aufbau von
Subsistenz.34
In
seinen "Perspektiven befreiten und entschulten Lernens"
hat Heinrich Dauber Illich und Freire das Verdienst zuerkannt,
als Wanderer zwischen der sogenannten unterentwickelten
und der sogenannten entwickelten Welt die Funktionen und Folgen
schulisch organisierten Lernen verdeutlicht zu haben. "Beide
haben gezeigt, daß die soziale und ökonomische 'Entwicklung'
der abhängig gehaltenen Länder der Dritten Welt ebenso wie die
Begrenzung der industriell‑kapitalistischen Wachstums in
den Metropolen ‑ und damit ein humanes Überleben aller ‑
nicht zuletzt davon abhängt, ob es gelingt, hier wie dort
umfassende politische Lernprozesse einzuleiten. Beide gehen in ihrem
Ziel weit über die Behebung einer Schul‑ oder
Erziehungskrise hinaus. Beiden geht es darum, daß Menschen die
Wirklichkeit, in der sie leben, bewußt verstehen, selbst
kontrollieren und Gemeinschaft mit anderen autonom gestalten
können."35
Paulo
Freire sucht angesichts der "Verletzung der Menschlichkeit des
Menschen" in seiner problemformulierenden Bildungsarbeit,
die eine humanistische und befreiende Praxis darstellen soll, nach
einer geschichtlichen Berufung des Menschen, der nicht
fatalistisch gebeugt wird unter die historische Wirklichkeit. "Das
Streben nach voller Menschlichkeit kann jedoch nicht in Isolation
oder Individualismus vor sich gehen, sondern nur in
Gemeinschaft und Solidarität. Sie kann sich deswegen nicht in
den antagonistischen Beziehungen zwischen Unterdrücker und
Unterdrückten entfalten. Keiner kann echt menschlich sein,
während er andere daran hindert, dies zu sein. Wer in
individualistischer Weise versucht, mehr Mensch zu sein, gerät in
das egoistische Mehr‑Haben: eine Form der Entmenschlichung."36
Freire
hat gezeigt, daß die revolutionäre Bildungsarbeit eine
dialogische ist; der Dialog existiert nicht, wo es an der Liebe für
Menschen und Welt gebricht. Gegen dieses Gebrechen richten sich auch
Freie Schulen auf.
Nachsatz:
Der
Verfasser berät als Rechtsanwalt und Privatdozent der Pädagogik
unter anderem den Montessori‑Landesverband und
verschiedene Schulinitiativen in schulrechtlichen Fragen; s. Arnold
Köpcke‑Duttler, Eine Stärkung der Privatschulfreiheit?, in:
Montessori-Forum 1/1993, S. 42 ‑ 51 und ders., Martin
Schuster, Rat‑ und Tatgeber für Schulgründungs-Initiativen,
in: Montessori‑Forum Heft 3/1994, S. 41 ff.
1
Hans
Eckbert Treu, Zwangsanstalt Schule, Olten 1989, S. 18
2
Die
Schulaufsicht des Staates, ein Bereich der Daseinsvorsorge,
konkretisiert die staatliche Schulpflicht, die wiederum mit Art.
1 Abs. 1 GG (Menschenwürde) und mit dem Sozialstaatsprinzip
verbunden wird (s. Maunz‑Dürig, Grundgesetz, München
1995, Art. 7 Nr. 4 b). Schulaufsicht des Staates und Elternrecht
begrenzen einander und sollen sich doch verbinden in dem gemeinsamen
Ziel, "das Kind bei der Entwicklung zu einer
eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft zu
unterstützen und zu fördern."
3
s.
Joachim Schroeder, Freire und die Schule, in: Joachim Dabisch, Heinz
Schulze (Hg.) Befreiung und Menschlichkeit, München 1991, S. 215
ff.
4
Paulo
Freire, Hacia una pedagogía de la pregunta, Buenos Aires 1986
5
Freire,
Pedagogía: diálogo y conflicto, Buenos Aires 1987, zit. n. Joachim
Schroeder, Freire und die Schule, a.a.O. S. 220
6
Freire,
Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek 1990, S. 57 ff.
7
Freire,/Frei
Betto, Schule die Leben heißt, München 1986, S. 111
8
Dom
Helder Camara, Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, Graz/Wien/Köln
1973, S. 8
9
s.
Ulrich Klemm, Thesen zur Verfaßtheit der Staatsschule, in: Johannes
Heimrath (Hg.) Die Entfesselung der Kreativität. Das Menschenrecht
auf Schulvermeidung, Wolfratshausen 1988, S. 14 ff.
10
s.
A. Leschinsky/P. M. Roeder, Schule im historischen Prozeß,
Frankfurt 1983; s. a. Hans Moller, Die Schulpflicht als
Rechtsaltertum, in: Die Entfesselung der Kreativität, a.a.O. S. 37
ff.; Peter Vogel, Die bürokratische Schule, Kastellaum 1977
11
Hellmut
Becker, Widersprüche aushalten, München 1992, S. 169; s. a.
Johann Peter Vogel, Funktion und Bedeutung der Schulen in freier
Trägerschaft nach 40 Jahren Grundgesetz, in: Neue Sammlung 1989, S.
344 ff.
12
s.
Schule im Rechtsstaat, Bd. I, München 1981
13
Becker,
Widersprüche aushalten, a.a.O. S. 172
s.
a. Vogel, Die Privatschulbestimmungen des Grundgesetzes ‑ ein
Verfassungsmodell für das gesamte Schulwesen?, in: Neue Sammlung
1988, S. 367 ff.
14
Peter
Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, Bern/Stuttgart 1984, S. 149
15
Becker,
Zur öffentlichen Bedeutung privater Initiativen und zum
Verrechtlichungsproblem im Bildungswesen, in: Neue Sammlung 1988, S.
355 ff.
16
s.
Ulrich K. Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen,
Stuttgart 1969
17
Clemens
Menze, Staat und Schule, in: Vierteljahrsschrift für
wissenschaftliche Pädagogik 1974, S. 28; s. a. Peter Vogel, Kritik
der Staatspädagogik, in: ZfPäd 1982, S. 123 ff.
18
Menze,
Über die Notwendigkeit eines Freien Schulwesens, in:
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 1972, S.
220
19
Geort
Picht, Vorwort, in: Soziale Funktion der Freien Schulen in der
Bundesrepublik Deutschland, 2 Stuttgart 1976, S. 10
20
Deutsches
Verwaltungsblatt 1988, S. 587
21
BVerfGE
75, S. 40 ff.
22
in:
Recht der Jugend und des Bildungswesens 1994, S. 129 ff.
23
Pieroth,
Die staatliche Ersatzschulfinanzierung und der Schulhausbau, in: Die
öffentliche Verwaltung 1992, S. 594
24
Johann
Peter Vogel, Das Recht der Schulen und Heime in freier Trägerschaft,
Neuwied 1991, S. 43
25
Dieter
Falckenberg, Grundriß des Schulrechts in Bayern, Neuwied u. a. 1986
S. 184
26
BayVBl
1988, S. 529
27
Ludwig
Gramlich, Neuere Probleme der Pivatschulförderung, in: BayVBl
1987, S. 491
28
Deutsches
Verwaltungsblatt 1994, S. 747
29
Deutsches
Verwaltungsblatt 1994, S. 751; s. Hans Heckel/Hermann Avenarius,
Schulrechtskunde, Neuwied/Darmstadt 1986, S. 152 ff.
30
Vogel,
Das Recht der Schulen und Heime in freier Trägerschaft, a.a.O. S.
43
31
s.
Vogel, Goldener Käfig oder Förderung freier Initiativen?, in:
Goldschmidt, Roeder (Hg.) Alternative Schulen?, Stuttgart 1979,
S. 136
32
Frank‑Rüdiger
Jach, Schulvielfalt als Verfassungsgebot, Berlin 1991, S. 53 f.;
zum Zusammenhang zwischen Selbstverwaltung und Finanzautonomie s.
Hans Heckel, Autonomie, Demokratie und Partizipation an der
Schule, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 1971, S. 130
33
Ivan
Illich, Vom Recht auf Gemeinheit, Reinbek 1982, S. 63. ‑
"Verschulte Menschen vergessen, daß Erziehung, also
Lernproduktion, nur eine Krücke ist." (S. 72).
S.
Hartmut von Hentig, Was ist eine humane Schule?, München/Wien
1976, S. 117 ff.
34
Heinrich
Dauber, Radikale Schulkritik als Schultheorie?
Kulturrevolutionäre Perspektiven bei Freire und Illich, in:
Klaus‑Jürgen Tillmann (Hg.) Schultheorien, Hamburg 1993,
S. 111 f.; s. a. Beck, Dauber u. a., Das Recht auf Ungezogenheit,
Reinbek 1983
35
Freire,
Pädagogik der Unterdrückten, a.a.O., S. 69;
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