Zeitschrift für befreiende Pädagogik - damals: Lernbehindert? Freie Schulen? SOLL ENTWURF BLEIBEN!


Dietlinde Gipser

War Aschenputtel lernbehindert?
oder:
Die Legitimationskrise der Sonderpädagogik


"Wilde Jungs ‑ brave Mädchen" ‑ das Thema einer sonderpädagogischen GEW‑VDS ‑ Tagung (Dorum 1992) legt im Alltagsverständnis sonderpäd­agogischen Handelns eigentlich nahe, daß wir uns nur mit den Problemfäl­len, nämlich den "wilden Jungs" zu beschäftigen hätten. Die "braven Mädchen" hätten hier nichts zu suchen. Daß ein braves Mädchen wie Aschenputtel aus dem bekannten Märchen dennoch "SonderpädagogIn­nen" beschäftigen könnte, möchte ich hier diskutieren und darauf aufbau­end einige allgemeine Betrachtungen zur Legitimationskrise der Sonder­pädagogik anstellen, Sonderpädagogik als Symbolisierung der Krise der Pädagogik beschreiben und Auswege mittels einer befreienden Pädagogik im Sinne Freires aufzeigen.


1. War Aschenputtel lernbehindert?

Das Märchen "Aschenputtel" (Cinde­rella im englischen Sprachraum, französisch Cendrillon, italienisch La Gatta Cenerentola ‑ die Aschenkatze) ist zweifelsohne das bestbekannte Märchen auf der ganzen Welt und vielleicht auch das beliebteste (vgl. Bettelheim 1985, S.275). In China wurde das Märchen bereits im 9.‑ Jahrhundert aufgezeichnet, in der westlichen Welt erstmals in Italien von Basile, wenig später von Perrault in Frankreich, und dann von den Gebrüdern Grimm in Deutschland vor 150 bis 200 Jahren.

Literaturwissenschaftler, Psychologen, Psychoanalytiker, Pädagogen, auch Soziologen haben sich mit Märchen auseinandergesetzt, interpretiert, gedeutet und deren Funktion analy­siert. Märchen gehören zum Grund­stock einer jeden Kultur; sie tragen menschliche Erfahrungen, Wünsche und Hoffnungen aus uralten Zeiten ins heutige Bewußtsein, oft geeignet zum Wiedererkennen eigener Befind­lichkeit. Märchen spiegeln typische, allgemein menschliche Situationen und Schicksale wider.

Und so beginnt das Märchen (in der Grimm'schen Fassung):

Einem reichen Manne, dem wurde seine Frau krank, und als sie fühlte, daß ihr Ende herankam, rief sie ihr einziges Töchterlein zu sich ans Bett und sprach: "Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein." Darauf tat sie die Augen zu und verschied. Das Mädchen ging jeden Tag hinaus zu dem Grabe der Mutter und weinte ...

Ein Mädchen, das täglich auf den Friedhof geht, an einem Grab weint, ein Kind, dessen Seele gewisserma­ßen im Jenseits weilt, muß verant­wortungsvollen Fachleuten sofort zum Problem werden:
Wie kann dieses Kind wieder Kontakt zur Wirklichkeit bekommen? Handelt es sich vielleicht gar um nekrophile Neigungen? Welche Therapie wäre am besten angezeigt?
Die Gesprächstherapie könnte gleich einsteigen mit "Du bist traurig, weil deine Mutti gestorben ist". Die Ver­haltenstherapie könnte ein An­ti‑Friedhofs‑Trainingsprogramm ent­werfen.

Aber wir ExpertInnen sind doch breit gefächert interessiert und gut ausge­bildet und fragen erstmal nach: Was ist denn Trauer? Was bedeutet das Verhalten? Wir könnten bespielswei­se meinen, daß Trauern eine aktive ‑ wohl zu schätzende ‑ psychische Beschäftigung ist. Daß sie nicht zu verwechseln sei mit Depression, die heutzutage so weit verbreitet ist. Wir könnten sagen, daß, wer zu trauern vermag, nicht blind gegen sich und widrige Umstände wüten muß, aber doch der Hoffnung einen Platz in sich bewahrt, an dem eines Tages wieder Leben gedeihen kann.
Sollten wir das Mädchen vielleicht für eine Zeit doch trauern lassen?

Hören wir ein Stück mehr von der Geschichte.

Als der Winter kam, deckte der Schnee ein weißes Tüchlein auf das Grab, und als die Sonne im Frühjahr es wieder herabgezogen hatte, nahm sich der Mann eine andere Frau. Die Frau hatte zwei Töchter mit ins Haus gebracht, die schön und weiß von Angesicht waren, aber garstig und schwarz von Herzen. Da ging eine schlimme Zeit für das arme Stiefkind an. "Soll die dumme Gans bei uns in der Stube sitzen!" sprachen sie, "wer Brot essen will, muß es verdienen: hinaus mit der Küchenmagd." Sie nahmen ihm seine schönen Kleider weg, zogen ihm einen grauen alten Kittel an und gaben ihm hölzerne Schuhe. "Seht einmal die stolze Prin­zessin, wie sie geputzt ist!" riefen sie, lachten und führten es in die Küche. Da mußte es von Morgen bis Abend schwere Arbeit tun, früh vor Tag aufstehn, Wasser tragen, Feuer an­machen, kochen und waschen. Oben­drein taten ihm die Schwestern alles ersinnliche Herzeleid an, verspotteten es und schütteten ihm die Erbsen und Linsen in die Asche, so daß es sitzen und sie wieder auslesen mußte. Abends, wenn es sich müdegearbeitet hatte, kam es in kein Bett, sondern mußte sich neben den Herd in die Asche legen. Und weil es darum immer staubig und schmutzig aussah, nannten sie es Aschenputtel.

Uns aufmerksamen Menschenfreun­dInnen kann es erstmal nur mißfal­len, daß ein Mädchen von früh bis spät so schwer schuften muß: früh vor Tag aufstehen, Wasser tragen, Feuer machen, kochen, waschen ... eigent­lich schmeißt sie den ganzen Haus­halt, verrichtet alle lebensnotwendi­gen Tätigkeiten ... und wird verspot­tet. Das ist das alte, uralte Los der Frauen. Die Frau ist Hüterin des Feuers, Gestalterin des Lebens, aber ‑ wie Aschenputtel ‑ unbezahlt, unbe­dankt, verachtet, verspottet, in Asche grau.

Warum lehnt sich diese junge Frau, warum nicht jede andere in gleicher Lage gegen ihre Unterdrückung auf? Hat sie vielleicht einen Defekt? Eine Behinderung gar? War Aschenputtel lernbehindert? Könnte uns die Lern­behindertenpädagogik da nicht wei­terhelfen?

Legen wir Heinz Bach's "Sonderpäd­agogik im Grundriß" (1976) zugrunde: Nach Kanter (a.a.O., S. 106 f.) hat demnach Aschenputtel folgende Sozialisationsmängel aufzuweisen wie "Mangel an Zuwendung, emotionaler Wärme und Verständnis", "gestörte oder unvollständige Familie", "seeli­sche Traumen", "geringe geistige Anregung", "geringe Erwartungshal­tung der Eltern", "negative Einstel­lungen der Umwelt" etc., die zwangs­läufig zu Lernbehinderung führen: "Als lernbehindert i.e.S. werden Personen bezeichnet, die schwerwie­gend, umfänglich und langdauernd in ihrem Lernen beeinträchtigt sind und dadurch deutlich normabweichende Leistungs‑ und Verhaltensformen aufweisen."

Dies alles finden wir bei Aschenputtel ‑ vielleicht ist es sogar eher geistigbe­hindert: "Als geistigbehindert gelten Personen, deren Lernverhalten we­sentlich hinter der auf das Lebens­alter bezogenen Erwartung zurück­bleibt und durch ein dauerndes Vorherrschen des anschauend‑voll­ziehenden Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhalten und eine Konzentration des Lernfeldes auf direkte Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet ist ..." (Bach a.a.O., S. 92). Daher rührt dann auch eine "dauernde Unterstützungs‑ und Schutz­bedürftigkeit".

Auf jeden Fall ist Aschenputtel aber auch noch verhaltensbehindert und ‑gestört: es entspricht den von Bach (S. 140) beschriebenen Erscheinungs­weisen: "Mangelnde oder undifferen­zierte Kontaktaufnahmen und Be­zugsverhältnisse, mangelnde soziale Eingliederung, Kollisionen mit der Umwelt, ... Träumereien, extreme Verstimmtheit, Schüchternheit, Über­bravheit, Ängstlichkeit ...".

So haben wir nun mit Hilfe der tradi­tionellen Sonderpädagogik Aschen­puttel eindeutig als mehrfachbehin­dert diagnostiziert. Doch was fangen wir damit an? Gründen wir eine besondere Schule für solche Mäd­chen? Sollen wir ein spezielles För­derprogramm entwickeln, gar eines für Kinder unbekannter kultureller Herkunft? Oder was sonst? Erklärt uns die Klassifizierung überhaupt irgendetwas?

Aschenputtel steht für alle Menschen, die aufgrund bestimmter Machtver­hältnisse unterdrückt werden. Und dann werden darüberhinaus noch bestimmte negative Eigenschaften zugeschrieben ‑ wie es beim Aschen­puttel ganz deutlich wird: es hat gar keinen eigenen Namen mehr, es wird als 'das' Aschenputtel, also als säch­lich klassifiziert, es schläft in der Asche am Herd, ist schmutzig und damit auch faul, dumm und häßlich ‑ eindeutig Etikettierungen, die zumin­dest in der Familie wirksam werden ‑ über die Identitätsprobleme von Aschenputtel können wir nur Mutma­ßungen anstellen. Aschenputtel wird von seiner Stiefmutter und seinen Stiefschwestern erniedrigt und gede­mütigt; man läßt es die schmutzigste Arbeit verrichten, und obwohl es seine Sache gut macht, weiß man ihm keinen Dank dafür, man verlangt nur noch mehr von ihm.

Glücklicherweise greift in diese Situa­tion kein "Spezialist" ein, und die Situation löst sich zuguterletzt posi­tiv? auf ‑ mit nicht unbeträchtlichen Eigenaktivitäten von Aschenputtel selbst: sie bittet den Vater um den Haselzweig, den sie auf das Grab der Mutter pflanzt, sie ruft die Täubchen um Hilfe bei der Linsenauslese aus der Asche. Hildegunde Wöller, eine Theologin, sieht im Märchen vom Aschenputtel den Mythos von der großen Muttergöttin. "Und nicht nur dies. Ich meine zu sehen, daß dieses Märchen den Untergang der matriar­chalen Religion nicht nur betrauert, sondern auch darüber nachsinnt, wie es in der so veränderten patriarchalen Zeit nun weitergehen kann" (1985, S. 21). "Die demütigenden Erfahrungen, die Aschenputtel machte, hätten Haß und Zorn leicht in ihr überhandneh­men lassen können. Es ist eine fast übermenschliche innere Arbeit, die sie leistet, und das dreimal täglich, wenn sie unter dem Baum all ihren Kummer ablädt und sich mit aller Kraft auf die reine und reinigende Kraft der Mutter einstimmt" (S. 51). So wird aus der stillen Dulderin eine Kämpferin, wenn sie die Auseinan­dersetzung mit der Stiefmutter auf­nimmt ‑ auch wenn sie zunächst noch unterliegt. Aber ihr hilft die Mutter­göttin, und schließlich läßt sie sich vom Königssohn gewinnen, dem sie es auch nicht sehr leicht macht. Allerdings stellt Aschenputtel nie die gesetzten Regeln in Frage. Die böse Stiefmutter wirft die Linsen in die Asche. Aschenputtel muß sie wieder herauslesen, von Asche säubern und die schlechten aussondern: die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Aschenputtel rechtet nicht über den Sinn oder Unsinn der ge­stellten Aufgabe; sie macht, was befohlen wurde.

Das im Jahre 1981 erschienene Buch der Amerikanerin Colette Dowling "Der Cinderella‑Komplex. Die heimli­che Angst der Frauen vor der Un­abhängigkeit" war sofort ein Bestsel­ler. Wie Aschenputtel im Märchen stellt auch die heutige Frau noch ihre Fähigkeiten in den Schatten, sie wartet auf den rettenden Prinzen ‑ sie leidet am Cinderella‑Komplex ‑ so die Aussage Colette Dowlings. Es geht hier um den Wunsch nach Si­cherheit, der jegliche Kreativität und Eigenaktivität im Keime erstickt. Hindernisse werden für unüberwind­lich gehalten, und Grenzen werden vorzeitig gezogen. Könnte sich hier nicht nicht auch die Sonderpädagogik gefragt fühlen, helfend einzugreifen?



2. Die Legitimationskrise der Sonder­pädagogik

SonderpädagogInnen sind für Behin­derte zuständig. Wenn wir uns die verschiedenen Definitionen von Behinderung ansehen, so können sie genausogut auf die Beschreibung der gesellschaftlichen Situation von Mädchen und Frauen angewandt werden. Dies gilt zum Beispiel für die Definition durch das Bundessozial­hilfegesetz, wonach Personen behin­dert sind, "deren Aussichten, eine geeignete Beschäftigung zu finden und beizubehalten infolge ihrer geisti­gen und körperlichen Fähigkeit we­sentlich gemindert sind" bis hin zu einer der fortschrittlichsten Positio­nen, wie die von Wolfgang Jantzen: "Behinderung ist somit in ihrer kon­kreten Seite als Isolation von der Aneignung des gesellschaftlichen Erbes zu begreifen, in ihrer abstrak­ten Seite unter kapitalistischen Ge­sellschaftsbedingungen als nicht ver­wertbare Arbeitskraft, als 'Arbeits­kraft minderer Güte'." (Jantzen 1978, S.40). Ist es nicht verwunderlich, daß bislang von Sonderpädagogen noch keine Sonderschulen für Mädchen gefordert worden sind?

Daß die Sonderpädagogik diese in ihrer Logik konsequente, eigentlich aber absurde Idee noch nicht aufge­griffen hat, deutet darauf hin, daß die Sonderpädagogik in Theorie und Praxis an ihre Grenzen gelangt ist, was sich insbesondere auch in der Diskussion um die Integration zeigt. Die vorherrschende Legitimations­krise der Sonderpädagogik als Wis­senschaft ist gekennzeichnet dadurch, daß die Sonderpädagogik ein neues begriffliches Selbstverständnis zu gewinnen versucht ‑ seit Jahren ‑ ohne ihre früheren Positionen gänz­lich aufgeben zu müssen, ohne die grundsätzliche Kritik an der jahrzehn­telang geübten Legitimierung der Sondereinrichtungen durch einen statischen Behinderungsbegriff fol­genreich werden zu lassen und ohne damit die Frage nach den veränder­ten erkenntnisleitenden Interessen diskutieren zu müssen. "Weil sich die Probleme in Wirklichkeit viel kom­plexer stellen, ist es nur sehr schwer zu durchschauen, welche Konsequen­zen eine umfassende Integrationspra­xis tatsächlich haben wird. Eines jedoch ist schon klar geworden: es wird sehr schwer werden, nach einer so langen Zeit der Ausgrenzung, das zu korrigieren, was mittlerweile zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, nämlich die alltägliche Desinte­gration aller" (Praschak 1991, S. 2).

Sonderpädagogik in ihrer herrschen­den Form krankt daran, gesellschaftli­che Probleme unhinterfragt als 'Auf­gabe' zu übernehmen und sich dann um Problemlösungen ausschließlich im zugewiesenen Rahmen zu bemü­hen. Eine solche Sonderpädagogik kann keine validen Erkenntnisse erreichen, weil sie außeracht läßt, daß die sog. Tatsache, also die Vorfind­lichkeit von Behinderungen, immer schon eine hergestellte Tatsache ist, im Wortsinne nämlich eine 'Sache der Tat', eine gesellschaftlich und macht­mäßig herleitbare Tat des Definierens von Lebenskarrieren und institutio­nellen Behandlungsformen.

Wenn eine Theorie derartig herge­stellte Besonderheiten erklären will ohne die Tat der Herstellung, also ohne das Faktum, d.h. das Gemachte der Tatsache von Behinderung in die Betrachtung einzubeziehen, dann kann nur Unsinn oder Beliebiges das Ergebnis sein.

Sagenhafte Erklärungen können herauskommen, wenn wir mit den Kategorien traditionellen sonderpäd­agogischen Denkens die Tatsache von Linsen im Aschenkasten in unserem Märchen untersuchen, ohne in Be­tracht zu ziehen, daß die Stiefmutter diese Mischung erst hergestellt hat. Wie also kamen die Linsen und die Asche zusammen? Diese Frage bleibt für jene kaum beantwortbar, die das Hergestellte sozialer Verhältnisse nicht im Blick haben.
"Eine ... Heilpädagogik, die Verhal­tensweisen untersucht und behandelt, nicht aber die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den Verhal­tensweisen, trägt dazu bei, die realen Verhältnisse zu verschleiern und als willfähriges Werkzeug gesellschaftli­cher Sanktionierung normbezogener Abweichung durch sozialen Aus­schluß zu fungieren" (Feuser 1984, S. 265).

Historisch betrachtet wollte es der Sonderpädagogik offensichtlich nicht gelingen, sich aus dem eigenen Di­lemma zu befreien, nämlich einerseits der Persönlichkeitsentwicklung und der gesellschaftlichen Eingliederung behinderter Menschen zu dienen, andererseits aber meist das Gegenteil zu bewirken. Auf diesem Boden konnten sich einzelne 'Sonderpädago­giken' gut entwickeln und zu einem Alibi werden, sich mit den wirklichen Problemen sozialer Randgruppen nicht tiefergehend beschäftigen zu müssen: weil die Sonderpädagogik nur noch den Blick auf die einzelnen 'Behinderungsarten' richtete, wirkte sie immer isolierender. (vgl. Praschak 1991, S. 8).

In der jüngsten Vergangenheit erwies sich vor allem das Modell von Heinz Bach als besonders richtungsweisend für die Sonderpädagogik. Bach de­finiert Behinderung "als umfängliche, schwere und langfristige Beeinträchti­gung der Personalisation und Soziali­sation", die durch "unterschiedliche Erziehungsmaßnahmen innerhalb einer Sonder‑, Förder‑, Vorsorge‑ und Gesellschaftserziehung" aufzuhe­ben sei (Bach 1976, S. 11 f.). Eine ähnlich einflußreiche Begriffsbestim­mung legte Ulrich Bleidick vor, der seine "Pädagogik der Behinderten" in der Weise zu begründen versuchte, daß er das gesellschaftliche Phäno­men Behinderung als "intervenierende Variable des Erziehungsvorganges" beschrieb, die als "Störung, Hem­mung, Schaden oder Defekt" zur Wirkung kommt. Sein zentraler Gedanke, daß die Behinderung als "Schaden des Zöglings" gegeben sei und zu einer "Erschwernis des Erzie­hungs‑ und Bildungsprozesses" führe, machte für Behinderte eine "besonde­re" Erziehung notwendig (Bleidick 1972, S. 193 f.). Bleidick lieferte so in erster Linie Kriterien für die Zuord­nung von Problemkindern und Schul­versagern zu einer Institution der Sondererziehung. Der immense Ausbau des Sonderschulwesens ist der beste Beweis für diese Argumen­tation, in deren Folge Menschen noch weiter ausgegrenzt wurden und die Sonderpädagogik sich von der allge­meinen Pädagogik immer mehr ab­spalten konnte. (vgl. Praschak 1991, S. 9).



3. Behinderung als sozialer Tatbe­stand

Entgegen der herkömmlichen sonder­pädagogischen Sichtweise von Behin­derung als personenzentriert und defekt‑/defizitorientiert gehe ich davon aus, daß Behinderung ein sozialer Tatbestand ist. Eine gesell­schaftliche Gegebenheit ist Behinde­rung zumindest aus drei Gründen:

Erstens ist Behinderung etwas Relati­ves (damit stimmen Repräsentanten der Sonderpädagogik durchaus über­ein). Die Relativität der Behinderung ist dadurch gesetzt, daß sie eine den Mitgliedern einer bestimmten Gesell­schaft ins Auge fallende Abweichung von ihren eigenen Normalitätsvorstel­lungen darstellt.

Zweitens ist Behinderung das Ergeb­nis gesellschaftlicher Interaktionen. In diesen Interaktionen wird bestimmten Menschen die Eigenschaft der Behin­derung zugeschrieben. Dieser inter­aktionistische Ansatz in der Theorie der Behinderung richtet sich gegen die Selbstverständlichkeit, mit der die defektzentrierten Konzepte Behin­derung einzig als Eigenschaft be­stimmter Individuen definieren. Damit ist allerdings auch das Pro­blem gesellschaftlicher Macht be­rührt: Die Definitionsmacht der sog. Normalen ist bei weitem größer als die Möglichkeit des einzelnen, von der Norm in irgendeinem Punkt abweichenden Individuums, sich gegen die Zuschreibung des umfas­senden Etiketts "behindert" zur Wehr zu setzen.

Drittens bilden Behinderte eine z.T. sich selbst organisierende, überwie­gend jedoch von außen her abge­grenzte Gruppe, konkret: eine Rand­gruppe der gegenwärtigen Gesell­schaft. Dieser Begriff impliziert, daß sie als sozial benachteiligte Minorität weniger Subjekt als Objekt des gesell­schaftlichen Geschehens sind, Objekt nämlich der sozialen Fürsorge sowie ‑ was damit zumeist unmittelbar ver­bunden ist ‑ der sozialen Diskriminie­rung, gegen die ihnen keine eigenen Machtmittel zur Verfügung stehen.

Unter den gegenwärtigen gesellschaft­lichen Bedingungen ist zu beobach­ten, daß nach dem Eintreten einer "Behinderung" ökonomische und sozialpsychologische Deklassierungs­prozesse einsetzen. In dem Maße, wie die Anforderungen an die kognitiven und sonstigen individuellen Voraus­setzungen zur Teilnahme am gesell­schaftlichen Arbeitsprozeß steigen, wächst auch die Zahl der sog. Behin­derten. Ich kann, wenn auch über­spitzt, formulieren, daß die Gesell­schaft in ihrem historischen Prozeß aus sich heraus immer mehr "Behin­derungen" erfindet. Damit erhöhen sich auch die Zahl der Aus­sonderungsprozesse und die Zahl der Institutionen, in denen irgendwie abweichende Individuen als "Behin­derte" zusammengefaßt werden.

Hinzu tritt, daß mit der wachsenden Komplexität der Arbeitsprozesse auch eine andere "Technologie" sich ent­wickelt und verfeinert: das wissen­schaftlich‑diagnostische Instrumenta­rium zur Feststellung von Behinde­rungen. Dadurch werden immer mehr und letztlich auch immer kleinere Abweichungen vom sog. Normalver­halten auf eine besondere Eigenart des betreffenden Individuums zurück­geführt: sie verwandeln sich in eine ‑ als relativ stabil gedachte ‑ Qualität einer Person, die daraufhin als in irgendeiner Weise "behindert" und demgemäß "therapiebedürftig" etiket­tiert wird.

Die Dialektik des wissenschaft­lich‑technischen Fortschritts wird hier unmittelbar sinnfällig: die Verfeine­rungen des diagnostischen Instrumen­tariums können zwar einerseits prä­ventiven Maßnahmen dienlich sein; andererseits erhöhen sich dadurch die gesellschaftlichen Segregationsprozes­se.

Integration oder vielmehr Normalisie­rung beginnt dort, wo Ausso­n­derungs­maßnahmen vermieden wer­den. Das heißt auch, daß die Institu­tionen geschlossen werden müssen, in denen als "Behinderte" klassifizierte Personen zusammengefaßt und da­durch vom gesellschaftlichen Gesche­hen partiell abgeschnitten werden.

Gesamtgesellschaftlich und natürlich auch pädagogisch gesehen erfordert das ein radikales Umdenken: das gesellschaftliche Leistungsgefüge muß so verändert werden, daß auch Menschen darin Platz haben, die ihm eigentlich (noch) nicht gewachsen sind. Daraus folgt: wir brauchen einen Kindergarten und eine Schule für alle Kinder, "in denen eine allge­meine und integrative Pädagogik das Handeln bestimmt, um in eine neue Phase des Zusammenlebens und ‑arbeitens eintreten zu können" (Pra­schak 1991, S.10).
4. Die Sonderpädagogik als Symboli­sierung der Krise der Pädagogik

Die Sonderpädagogik, die Tatsache, daß es Sonderpädagogik ‑ immer noch ‑ gibt, ist die Symbolisierung der Krise der Pädagogik. Eine Pädagogik, die als Lehre von der Erziehung der Menschen nicht von der Verschieden­heit der Menschen, die es zu erziehen gilt, ausgeht, kann sich nur auf das Abstraktum "Wesen Mensch" bezie­hen. Dieses Abstraktum wird jeweils aktuell von der historisch und poli­tisch herrschenden Definition vom "Wesen Mensch" gefüllt. Wirksam ist bislang noch die Definition von Mensch als Ware Arbeitskraft, bezo­gen auf den industriellen Produk­tionsprozeß. Dieses Modell hat ei­gentlich abgedankt. Der Stundentakt, in festen Schulstunden konserviert, ist als Arbeitsqualifikation nicht mehr gesellschaftliche Grundanforderung. An seine Stelle sind mittlerweile Flexibilität, Kreativität, und teilauto­nome Selbstregulation der Individuen getreten. Diese Kriterien für eine aktuelle Operationalisierung vom "Wesen Mensch" resultieren aus den Anforderungen des gegenwärtigen Wirtschaftssystems. Selbst wenn wir somit nur systemimmanent, also nicht einmal gesellschaftsvisionär argumen­tieren, wird offensichtlich, wie anti­quiert die Prämissen des gegenwärti­gen Schulsystems sind.

Im Hinblick auf das Schulsystem fällt der Sonderschule vor allem die Funk­tion der Entlastung zu, während sie gesamtgesellschaftlich als Instanz sozialer Kontrolle fungiert, die dem potentiell abweichenden bzw. system­widrigen Verhalten von ökonomisch und sozial unterprivilegierten Grup­pen entgegenwirken soll.

Die Krise der Pädagogik wird sicht­bar in der Beibehaltung einer Sonder­pädagogik und ihrer sonderpädagogi­schen Einrichtungen. Eigentlich ginge es um die Flexibilisierung der allge­meinen Pädagogik, damit sie, den aktuellen Erfordernissen einer huma­neren Gesellschaft entsprechend, Erziehungsprozesse für die Vielfalt von menschlichen Anliegen, Vorlie­ben und Geprägtheiten nicht nur konzipierte sondern auch in die Praxis umsetzte.

Eine allgemeine Pädagogik, die den heutigen Ansprüchen genügte, müßte sich orientieren an den Differenzie­rungen der Menschen nach Ge­schlecht, sozialer und ethnischer Herkunft und individueller Eigenhei­ten. Dieser Aufgabe hat sich die Erziehungswissenschaft kaum gestellt. Sie ist gesellschaftlichen Prozessen hinterhergelaufen und bemüht sich in beachtenswerter Flickschusterei: da gibt es Integrationsversuche, Diver­sionsversuche, Hochbegabtenförde­rung, Debatten um interkulturelle Erziehung und neuerdings wieder Koedukation. Insbesondere an diesem letzten Punkt wird deutlich, daß die Zeit der Geschlechtsstereotype noch längst nicht vorbei ist, und daß die Pädagogik kaum die bisherigen Er­kenntnisse der Frauenforschung aufgegriffen hat, wonach auch das Geschlecht jeweils eine soziale Kon­struktion mit einer entsprechenden sozialen Plazierung darstellt (s. Metz‑Göckel/Kreienbaum 1991).


5. Ausblick

Aschenputtels Vater hatte, den Wunsch des Mädchens erfüllend, ein Hasel‑Reis heimgebracht. Aus ihm wuchs ein Baum, wunderbare Sachen spendend. Der Haselnußbaum galt als Baum der Weisheit, seine Früchte, sagt die Legende, verleihen Schönheit und Wissen. Aber auch als "Hexen­stock" wurde er stigmatisiert. Aschen­puttel gab sich zur rechten Zeit einen Impuls zum Aufbruch aus Asche und Unterdrückung. Der Haselnußbaum gab ihr die nötigen Mittel.

Wo steht unser Baum?
Es ist vielleicht noch kein Baum, aber wenn es ein Reis ist, dann kann daraus noch etwas wachsen.

Die Pädagogik wird als Regelpädago­gik und als Sonderpädagogik immer deutlicher versagen, wenn sie sich nicht auch die aufgeworfenen Frage­stellungen nach der Legitimierung von Aussonderung mit ihren gesell­schaftlichen Hintergründen zueigen macht und Lösungsversuche weiter­führt.

Wir brauchen eine Pädagogik, die ‑ wie Paulo Freire ‑Erziehung als "ein Instrument umgestaltenden Handelns" betrachtet, "als politische Praxis im Dienste der permanenten mensch­lichen Befreiung" (Freire 1971). Eine solche Pädagogik muß das Verhältnis von SchülerInnen zu LehrerInnen und die Auswahl der Lehrinhalte neu gestalten. Die LehrerInnen haben nicht mehr die Aufgabe, fertiges Wissen in die SchülerInnen hinein­zulagern, wie wenn jemand ein Gut­haben auf ein Bankkonto einlagert. Sie sollen den SchülerInnen die Probleme verdeutlichen, die im be­handelten Gegenstand enthalten sind. Über ein Thema, einen Text oder ein Bild treten LehrerInnen und Schüle­rInnen miteinander in Beziehung. Die LehrerInnen helfen den SchülerInnen die Probleme zu formulieren, die einen existenziellen Bezug zur Le­benswelt der SchülerInnen und damit auch zu der der LehrerInnen haben. Diese "problemformulierende" Me­thode begründet einen Dialog zwi­schen LehrerInnen und SchülerInnen. Sie arbeiten gleichberechtigt an ihrer gemeinsamen Aufgabe. Der Mythos von der Unwissenheit der SchülerIn­nen und von den wissenden Lehre­rInnen läßt sich dabei allerdings nicht aufrecht erhalten.

Mit immer neuen Problemformulie­rungen im Dialog zwischen Lehre­rInnen und SchülerInnen nähert sich der Erkenntnisprozeß den zentralen Widersprüchen der konkreten Le­benslage. Sog. "generative Themen" bündeln zentrale lebensgeschichtliche Probleme brennpunktartig. Ihre Behandlung eröffnet Einsichten in die eigene Lage und läßt bislang uner­probte Handlungsmöglichkeiten zuta­ge treten. Diese Themen können gewiß nicht von wissenden LehrerIn­nen vorgegeben werden, schon gar nicht von der Schulbehörde, sie müssen mit den SchülerInnen her­ausgearbeitet werden, wobei die LehrerInnen ihre Kenntnisse und ihre Lebenserfahrung mit einbringen.

Der aggressive Schüler, die schwei­gende Schulversagerin ‑ sie werden nicht so ohne weiteres das Angebot von Dialog akzeptieren. Zu oft wur­den sie hinters Licht geführt und antidialogisch zugerichtet. Aber kein anderes Mittel kann da weiterhelfen als das echte Angebot eines Dialogs, der zu allererst die Aggression und das Schweigen und ihre Ursachen thematisiert.

Kann für SchülerInnen ihr "Schwei­gen" generatives Thema sein, so könnte für Studierende z.B. "Prü­fungsangst", für Lehrende möglicher­weise "Konkurrenz" oder auch "die Angst des Lehrers vor dem Schüler" zentrales Anliegen ihrer Lage sein.

Die Ermittlung der generativen Themen ist Forschungsprozeß und dialogische Interaktion zugleich. Der Phantasie in der Auswahl der Vor­gehensweisen sind keine Grenzen gesetzt. Ausschlaggebend sind allein die Auslotung des gesamten Problem­feldes, die Auflösung festkodierter Weltinterpretationen, die ein Teil der Unterdrückung durch vorherrschende Ideologien sind, und die kollektive Erarbeitung von Veränderungsmög­lichkeiten, sowohl im eigenen Hand­lungsbereich als auch in den engeren und weiteren Bedingungen der Le­benswelt.



Ihr saht das Übliche, das immerfort Vorkommende.
Wir bitten euch aber:
Was nicht fremd ist, findet befremd­lich!
Was gewöhnlich ist, findet unerklär­lich!
Was da üblich ist, das soll euch erstaunen.
Was die Regel ist, das erkennt als Mißbrauch
Und wo ihr den Mißbrauch erkannt habt
Da schafft Abhilfe!
BRECHT

Literatur:

Bach, Heinz: Sonderpädagogik im Grundriß, Berlin 1976
Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen, Reinbek 1985
Bleidick, Ulrich: Pädagogik der Behinderten, Berlin 1972
Dowling, Colette: Der Cinderella‑Komplex, Frankfurt 1981
Feuser, Georg: Stichwort "Heilpädagogik", in: Reich­mann, E.: Handbuch der kritischen und materiali­stischen Behindertenpädagogik, Oberbiel 1984
Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten, Stutt­gart 1971
Gipser, Dietlinde: Für ein Theater der Befreiung. Paulo Freire und Augusto Boal, in: Dabisch, J. / Schulze, H. (Hg.): Befreiung und Menschlichkeit. Texte zu Paulo Freire, München 1991
Jantzen, Wolfgang: Behindertenpädagogik Persön­lichkeitstheorie Therapie, Köln 1978
Metz‑Göckel, Sigrid / Kreienbaum, Maria Anna: Herkömmliche Geschlechterpolarisierung und neue Differenzierungen, in: päd.extra 12/1991
Praschak, Wolfgang: Die Grenzen der Sonderpäd­agogik, vervielf. MS, Hannover 1991, veröffentlicht in: Behindertenpädagogik Heft 2, 30. Jg., 1991
Wöller, Hildegunde: Aschenputtel, Zürich 1985


Arnold Köpcke‑Duttler

Die Förderung Freier Schulen.
Einige Gedanken zum Recht der Vielfalt im Schulwesen.



Einleitung

Wo nicht mehr die Welt selbst die Schule des Menschen ist, in eingeeng­ter Perspektive die Schule in ihrer Funktion an den Staat gebunden wird, maßt dieser sich die "Rolle des obersten Erziehers im gesamten Bildungswesen" an.1 Eltern‑ und Kindesrechte werden zurückgedrängt, die Schulpflicht dominiert, ausgerich­tet an der Funktionsfähigkeit dieser staatlichen Anstalt, Grund‑ und Menschenrechte. Die allgemeine Schulpflicht beschränkt ‑ so das Bundesverfassungsgericht ‑ das in Artikel 6 Absatz 2 Satz 1 Grundge­setz gewährleistete elterliche Bestim­mungsrecht über die Erziehung des Kindes. Verfassungsrechtlich anzuer­kennen sei der staatliche Erziehungs­auftrag, der dem wohlverstandenen Interesse des Kindes diene.2 Wieder­um statuiert Art. 26 Abs. 3 der All­gemeinen Erklärung der Menschen­rechte das Recht der Eltern, die Art der ihren Kindern zuteil werdenden Bildung zu bestimmen. Nach Art. 13 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte besteht die Freiheit der Eltern auch darin, eine andere als die staatliche (öffentlich genannte) Schule zu wählen, die religiöse und sittliche Bildung ihrer Kinder in Übereinstim­mung mit ihren eigenen Überzeugun­gen sicherzustellen, wobei der Staat allenfalls bildungspolitische Mindest­normen festlegen darf. Schulpflicht, gar Schulzwang, verletzt dann nicht allein das Elternrecht, sondern auch das Recht eines Kindes auf Bildung, ein Menschenrecht (s. Art. 26 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948).

Paulo Freire hat selber in den vierzi­ger Jahren im Grundschulbereich gearbeitet. Er hat die Schule als Instrument des Herrschaftsapparats erlebt und auch als einen Teil gesell­schaftlicher Praxis, in dem Wider­stand geleistet werden kann, an dem eine Pädagogik des Widerstands entsteht.3 Erfüllt sie oft die Rolle einer Selektionsmaschinerie für die Gesellschaft, eine Ausleseanstalt, so kann sie nach Freire doch zu einer "escuela popular" werden mit Hilfe einer Theorie der Pägagogik, die eine Praxis der Transformation der Reali­tät vorschlägt und eine Vielzahl von Fragen4 öffnet (Schule des Fragens). Als besondere Schwierigkeit staatlich veranstalteter Schulbildung entdeckte Freire, daß vorgefertigte Lehrpläne und Schulbücher verwendet werden müssen ‑ im Sinn einer Kontrolle der Inhalte des Schulunterrichts und einer Vereinheitlichung der Bildung. Da­gegen soll sich die politische Autono­mie der einzelnen Schule richten, wobei Autonomie nicht als Isolierung der Schulen im Gemeinwesen ver­standen wird, sondern "als Recht, die Entscheidungspositionen aufgrund eines internen Konsens zu besetzen, autonom über Schulfragen mit selbst­bestimmten Instrumenten im Schul­rat, der Eltern, Schüler, Funktionäre und Lehrer zusammenführt, zu ent­scheiden, die Einführung des Kolle­gialitätsprinzips und die Abschaffung der autoritär strukturierten Schulver­fassung."5 Die Autonomie der Schule stelle nicht eine allgemeine Harmonie her, sondern provoziere die Verände­rung, suche Auseinandersetzung und Tumult. Schulen sollen die Offenheit des Dialogs ermöglichen, das Recht, offen zu sprechen, fördern, die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse voranbringen.

Plädoyer für die Freie Schule

Paulo Freire protestiert gegen jeden Versuch, Schüler zu Behältern her­abzuwürdigen, die vom Lehrer gefüllt werden müssen. Wissen entstehe nur durch Erfindung und Neuerfindung, in der ruhelosen und von Hoffnung gehaltenen Praxis. In ihrem "Drang nach Versöhnung" will die befreiende Bildungsarbeit die kreative Kraft der Schüler steigern. Das "Bankiers‑Kon­zept" erniedrigt Menschen zu Auto­maten und verleugnet ihre wesens­mäßige Bestimmung, "vollkommener menschlich" zu werden in ungeduldi­ger Suche. Der humanistische und revolutionäre Erzieher muß sich nach Freire zusammen mit seinen Schülern bemühen, sich in kritisches Denken einzuüben und die gegenseitige Vermenschlichung zu wagen, erfüllt von einem Vertrauen in die Men­schen und in ihre schöpferische Kraft.6 Der "schlechte Schüler" Frei Betto, der sich selbst als Opfer des zu seiner Zeit herrschenden Erziehungs­systems versteht, faßt in seinem Gespräch mit Freire die Schule des Lebens in der ihm wichtigsten Lek­tion zusammen, in einem Traum von der Zukunft, in der die Forderung nach Gerechtigkeit keine Beschrän­kung der Freiheit bedeutet und die Fülle der Freiheit keinerlei Ein­schränkung des Bedürfnisses nach Gerechtigkeit.7 Der Übermensch dagegen schmälert die Rechte ande­rer Menschen, verletzt Menschen, die Mit‑Schöpfer sein können und stellt Untermenschen her, indem er Men­schen auf die Bedingungen ihrer Unter‑Menschheit reduziert8, sie auf Hunger und Entrechtung zurichtet.

Die Kritik der staatlich organisierten Schulen in Deutschland lehnt sich auf gegen staatliche Herrschaftsrechte an der Schule; proklamiert wird ein "Menschenrecht auf Schulver­mei­dung", das Recht eines jeden Men­schen auf Bildung außerhalb von Schulpflicht und staatlichem Zwang, das Recht, sich nicht einfügen zu lassen in die Ausprägung des öffentli­chen (= staatlichen) Schulwesens als eines Teils jenes Prozesses, in dem zentralistische Nationalstaaten sich etablieren.9 Die Zurückdrängung des Kirchenmonopols durch ein Staats­monopol kombinierte nicht allein Militärdienst‑ und Schulpflicht, son­dern verwandte die letzten als Mittel, die Erziehung zum Untertan durch­zusetzen.10 Die Verstaatlichung der Bildung verband sich mit einem Prozeß der Verschulung, der Verwal­tung der Schule, der Produktion des "Untertans Kind" (Carl‑Heinz Mal­let).

In seinem "Plädoyer für die freie Schule" betont Hellmut Becker das Verlangen nach Autonomie der Schule und nach einer größeren pädagogischen Freiheit. Eigentliche Basis der pädagogischen Freiheit sei die Notwendigkeit des Dialogs. Von daher widerspricht der Jurist und Bildungsforscher dem Bildungsmono­pol des Staates und dem staatlichen Schulzwang. In der politischen Schul­diskussion erscheine die Doppeldeu­tigkeit des Freiheitsbegriffs als Frei­heit vom Staat und Freiheit von gesellschaftlich übermächtigen Ein­flüssen. Die Schule in freier Träger­schaft auf nicht‑konfessioneller Grundlage bilde den notwendigen Sauerteig im deutschen Bildungswe­sen. "Die Freiheit der freien Schule besteht nicht nur in der freien Schü­ler‑ und Lehrerwahl, sondern auch in der Freiheit des curricularen Ange­bots und der Unterrichtsmethodik... Schon die Weimarer Verfassung, mehr noch aber das Grundgesetz, haben die verstärkte Freiheit in Aufbau und Inhalt der Schulen in freier Trägerschaft garantiert. Das hatte zur Folge, daß sich die Bestre­bungen zur Veränderung des traditio­nellen Schulwesens häufig des Mittels der Gründung von Schulen in freier Trägerschaft bedient haben."11

Die Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentages hat ebenfalls einer verstärkten Autonomie der Schule das Wort geredet in ihrem Entwurf eines Schulgesetzes.12 Das Grundgesetz wurde interpretiert als Proklamation eines vielfältigen Schul­wesens, der Stärkung der Partizipa­tion der Lehrer, Schüler und Eltern an den schulischen Entscheidungs­prozeduren. Die Tradition der päd­agogischen Freiheit und die "Tradi­tion der Schule als einer hierarchi­schen, in sich durchbürokratisierten Staatsanbindung" (Becker) stehen gegeneinander. Das Plädoyer für die Vielfalt der Schulen erkennt an, daß Bildung und Schule öffentliche Auf­gaben sind, daß jede Schule in öffent­licher Verantwortung steht. "Die freie Initiative darf nicht auf die privaten Schulen beschränkt bleiben. Wenn alle Bildung öffentlich ist, dann kann alle Bildung sich nur in Freiheit vollziehen. Öffentliche Schule muß daher auch freie Schule sein. Staatli­che Schule und Schule in freier Trä­gerschaft sollen in derselben Freiheit arbeiten können."13 Auch der Staat soll individuelle Mündigkeit, die zugleich Einsicht in die eigene Ver­antwortung und "Zuwendung zum Nächsten" ist, durch Bildung, Kultur und Mitwirkung ermöglichen. "Der Staat muß eben Chancen für Betäti­gung von Mündigkeit gewähren und so der Mündigkeit stetige 'Weiter­bildung' ermöglichen: Zunächst durch vielfältige Teilhabe an staatlichen Ent­scheidungsprozessen, aber auch durch die Gewährleistung von Teilha­be an 'gesellschaftlichen' Verfahren, deren Ergebnisse für den Bürger von existentialer Bedeutung sein können: an Entscheidungsprozesse in Schulen, Universitäten, Unternehmungen, je nach Maßgabe der jeweiligen Ent­scheidungs‑Fähigkeit ..."14 Wird staat­lichen Einrichtungen oft Bürokratisie­rung vorgeworfen, so privaten Initiati­ven die Durchsetzung eines elitären Anspruchs, eines anmaßenden Privi­legs. Gegen die Abstraktion dieses Widerspruchs stellt Becker die These auf, daß Bildung wegen ihrer sozialen Bedeutung immer eine öffentliche Angelegenheit ist, daß sie eine res publica bleibt, ob sie nun staatlich oder privat organisiert ist. "Jeder Bildungsvorgang in einer Demokratie besitzt öffentliche Relevanz."15 Bil­dung besitze eine öffentliche Funk­tion; dieser Bereich öffentlicher Ver­antwortung müsse sich sein Recht erst schaffen.16


Auch Pädagogen raten, die Kenn­zeichnung der nichtstaatlichen öffent­lichen Schulen als private Ersatzschu­len aufzugeben. Die Gleichsetzung von staatlich gleich öffentlich und nichtstaatlich gleich privat sei falsch. Schulen in freier Trägerschaft seien genauso öffentlich wie staatliche Schulen.17 Das Freie Schulwesen solle die Erziehung der normierenden Bestimmungsgewalt des Staates ent­winden, von einer "staatlich verordne­ten Humanität" (Clemens Menze) weg die Bildung als "heiligstes Men­schenrecht" (Carl August Zeller) respektieren. Die Freie Schule soll entgegen einer versteinerten Staats­schule die Vielfalt pädagogischer Möglichkeiten öffnen, Eigeninitiative und Spontaneität fördern. "Ein inhalt­lich weitgehend bestimmtes staatli­ches Schulwesen mit einem starken Ausschließlichkeitsanspruch wider­spricht der immer proklamierten Mündigkeit des Bürgers mit seinem Recht auf individuelle Bildung."18 Das Bildungsmonopol des Staates muß also um der Bildung willen einge­schränkt werden. In diesem Sinn betrachtet Georg Picht die Freien Schulen wegen des Reichtums ihrer Motivationen und Erfahrungen, ihrer erzieherischen Gehalte und der Vielfalt ihrer Formen als wesentli­chen Bestandteil des deutschen Bil­dungswesens, als Sektor des öffentli­chen Bildungswesens einer demokra­tischen Gesellschaft. Gerade in Deutschland ‑ vor allem auf dem Gebiet des Schulwesens ‑ sei die Demokratie bedroht durch eine ungebrochenen Tradition obrigkeits­staatlichen Denkens, durch ein Über­gewicht des Staates. "Die Freien Schulen bilden ein Gegengewicht gegen die mächtigen totalitären Tendenzen, die hier noch längst nicht überwunden sind."19 Die Quellen pädagogischer Innovation und das freie Schulwesen sind aus der Star­rheit abministrativer Strukturen zu befreien, vor Gleichschaltung und finanzieller Auszehrung zu schützen.

Finanzielle Förderung Freier Schulen

In diesem Teil möchte ich mich rechtlichen Fragen der finanziellen Förderung Freier Schulen zuwenden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem die Privatschulfreiheit betref­fenden Ur­teil vom 17.03. 198820 be­tont, in Art. 7 Abs. 4 Grundgesetz gründe eine sozialstaatliche Pflicht, die den Ländern aufgebe, das private Ersatzschulwesen neben dem öffentli­chen Schulwesen zu fördern und in seinem Bestand zu erhalten. Der Ersatzschulträger habe eine grund­rechtliche Position, ihm komme von Verfassungs wegen das Recht zu, am staatlichen Schutz durch materielle Hilfen beteiligt zu werden, die es ermöglichen, die Institution des Ersatzschulwesens zu erhalten. Sein eigenes Interesse daran, daß dem Ersatzschulwesen diejenige staatliche Hilfe zuteil werde, die es zu seiner Erhaltung als Institution benötige, sei grundrechtlich geschützt.

Diese Grundrechtsverbür­gung der Privatschulfreiheit verpflichtet den Landesge­setzgeber nicht nur, das Ersatzschulwesen gegen seine rechtliche Abschaf­fung oder Aushöhlung zu sichern, sondern darüber hinaus, das Ersatzschulwe­sen als Institution im Raum der Gesellschaft tatsächlich lebensfähig zu erhalten.

Allerdings will dieses Urteil nur eine evidente Bedrohung des Ersatzschul­wesens abwehren; in anderer Hinsicht stimmt es dem Verwaltungsgerichts­hof München (Urteil vom 18.12. 1985) zu, das den erfolgreichen Ab­schluß von zwei Schul­jahrgängen als zusätzliche Förderungsvoraussetzung für rechtmäßig gehalten hatte. Die sogenannte Karenzzeit wurde also damals noch als verfassungsmäßig anerkannt mit der Folge einer vehe­menten Einschränkung der Freiheit, Freie Schulen zu gründen.

Auch in dem Urteil des Bundesver­fassungsgerichts vom 08.04.198721 heißt es zwar, dem Staat sei die Pflicht auferlegt, das private Ersatz­schulwesen zu schützen. Eine aus der Schutzpflicht folgende Handlungs­pflicht werde aber erst ausgelöst, wenn das Ersatzschulwesen in seinem Bestand bedroht sei. Dieses Urteil bezieht sich im übrigen auf das Pri­vatschulgesetz der Freien und Hanse­stadt Hamburg vom 12.12.1977.

Den Kern dieser freiheitsbeschrän­kenden Argumentation hat in letzter Zeit noch Peschke herausgearbeitet, indem er gegen die "Apologeten des Privatschulwesens" feststellt, die ver­fassungsrechtliche Schutz‑ und För­derungspflicht des Staates orientiere sich am Bestand des Ersatzschulwe­sens als Institution und beziehe sich nicht auf die einzelne Schule. Diese habe kein einklagbares Recht auf Förderung. Gründungs‑ und Aufbau­kosten müsse der Ersatzschulträger allein übernehmen; die verfassungs­rechtliche Förderungspflicht gestatte eine Karenzzeit in der Aufbauphase und zwinge den Staat nicht zu finan­zieller Förderung bereits vom Zeit­punkt der Betriebsaufnahme an. Im Interesse des Gemeinwohls sei es zulässig, begrenzt zur Verfügung stehende öffentliche Mittel für andere wichtige Gemeinschaftsgüter einzuset­zen und finanzielle Zuwendungen für Ersatzschulträger entsprechend zu kürzen.22 In der Tat zeigt diese neue­re Abhandlung das große Spannungs­feld der schulrechtlichen Diskussion über die finanzielle Förderung freier Schulen auf.

In neueren Entscheidungen nun entnimmt das Bundesverfassungsge­richt der Errichtungsgarantie für Schulen in freier Trägerschaft und den Genehmigungsvoraussetzungen für Ersatzschulen in Art. 7 Abs. 4 Grundgesetz eine verfassungsrecht­liche Leistungspflicht des Staates gegenüber Trägern von Ersatzschu­len. Dabei ist auch das Argument von Bedeutung, das Schulgeld müsse so bemessen sein, daß eine Ersatzschule grundsätzlich allen Bürgern ohne Rücksicht auf ihre persönlichen finan­ziellen Verhältnisse offenstehe. Zu sprechen ist also von einer "sozial­staatlichen Einstandspflicht."23

Diese Andeutungen der rechtlichen Streitigkeiten über die finanzielle Förderung öffnen die verfassungs­rechtliche Frage, wie Leistungs‑ oder Teilhaberechte aus Freiheitsrechten, die generell als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden werden, abgelei­tet werden können. Auf einer men­schenrechtlichen Ebene führt Vogel die öffentliche Finanzhilfe zurück auf jene Privatschulgarantie, die nicht nur als Abwehr vom staatlichen Schul­monopol verstanden wird, sondern darüber hinaus als Bekenntnis zur Vielfalt im Schulwesen und zur Selbstbestimmung der freien Träger.24 Dieses Bekenntnis bilde ein Prinzip der Verfassung insgesamt.

Falckenberg hebt die Verpflichtung des Staates hervor, dafür zu sorgen, daß das Privatschulwesen nicht zum Erliegen kommt, sondern seine eigen­ständige Bedeutung voll entfalten kann. Dabei habe der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, der die Haushaltsgegebenheiten nicht unbeachtet lassen dürfe.25 Gegen diese Betonung des Eigenstands und der Selbstgestaltung richtet der Baye­rische Verfassungsgerichtshof26 seine Entscheidung, im Mittelpunkt stehe der Bestand des Privatschulwesens als Institution, ein unmittelbarer An­spruch der einzelnen Privatschule aus Art. 134 Abs. 2 Bayerische Verfas­sung und Art. 7 Abs. 4 Grundgesetz sei abzuweisen. Wiederum sagen andere Schulrechtler, daß freien Schulen eine ihrer Eigenart entspre­chende Verwirklichung verfassungs­kräftig gesichert sein muß.27

Nach dieser knappen Skizzierung der kontroversen Diskussion über die finanzielle Förderung Freier Schulen ist auf zwei neue Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinzuwei­sen. In dem Beschluß vom 09.03.1994 heißt es, der Staat müsse Vorsorge dagegen treffen, daß das Grundrecht des Art. 7 Abs. 4 GG wegen der darin enthaltenen Anforderungen praktisch kaum noch wahrgenommen werden könne. Insofern könne sich aus diesem Grundrecht ein Anspruch auf staatliche Förderung privater Ersatzschulen ergeben. Wartefristen vor Einsetzen der staatlichen Finanz­hilfe seien mit der staatlichen Schutz‑ und Föderpflicht grundsätzlich ver­einbar. Die Förderung müsse jedoch insgesamt so ausgestaltet sein, daß sich die Wartefrist nicht als Sperre für die Errichtung neuer Schulen auswirke. Der Staat habe die Anfor­derungen an die Gleichwertigkeit privater Schulen fortlaufend ver­schärft und den Standard seiner eigenen schulischen Einrichtungen gehoben. Die privaten Ersatzschulen, die sich diesem Standard anpassen müßten, könnten die erforderlichen erheblichen Kosten nicht in vollem Umfang über Schulgelder decken. Zudem dürften sie eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhält­nissen der Eltern nicht vornehmen (Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG). Solle die Privatschulfreiheit nicht leerlaufen, schulde der Staat deshalb einen Ausgleich für die vom Grundgesetz errichteten Genehmigungshürden. Angesichts des von der Verfassung gebotenen "schulischen Pluralismus" müsse die staatliche Förderung si­cherstellen, "daß Schulträger, die sich ihrerseits finanziell für ihre besonde­ren pädagogischen Ziele zu engagie­ren bereit sind, die Genehmigungs­anforderungen des Art. 7 Abs. 4 Satz 3 und 4 Grundgesetz auf Dauer erfüllen können."29 Eine volle Über­nahme der Kosten sei freilich nicht geboten. Der Staat dürfe sich an den Kosten des öffentlichen Schulwesens orientieren; eine bessere Ausstattung als vergleichbare öffentliche Schulen könnten die Ersatzschulen nicht beanspruchen. Einen verfassungsun­mittelbaren Anspruch auf Gewährung staatlicher Finanzhilfe, gar noch in bestimmter Höhe, gebe es nicht. Damit kann einerseits auf Schulfinan­zierungsgesetze der Länder verwiesen werden, andererseits der Schutzan­spruch begrenzt werden auf die Schutz‑ und Förderpflicht, die wieder­um den politischen Handlungsspiel­raum bestimmt. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich der gerichtliche Rechtsschutz auf die Prüfung einer Untätigkeit, einer groben Vernachlässigung und eines ersatzlosen Abbaus getroffener Maßnahmen.

Der zweite Beschluß vom 09.03.1994 erklärt mit Art. 7 Abs. 4 Satz 1 un­vereinbar, bei der staatlichen Finanz­hilfe für Ersatzschulen die Kosten für die Beschaffung der erforderlichen Schulräume völlig unberücksichtigt zu lassen.30 Die Beschlüsse zeigen einen großen Spielraum der Ländergesetz­gebung auf. Keinesfalls darf eine Besserstellung der privaten Schulträ­ger im Vergleich mit gleichartigen öffentlichen Schulen erfolgen.

Andererseits ist angesichts des Grundrechts der Privatschulfreiheit anzumahnen, daß die Förderungs­pflicht an die Genehmigungsvoraus­setzungen des Art. 7 Abs. 4 GG geknüpft ist, die Förderung sich auf den Aufwand beziehen muß, der zur Erfüllung der Genehmigungsvoraus­setzungen erforderlich ist31, also zur Verdeutlichung des "besonderen pädagogischen Interesses", des eige­nen pädagogischen Gesichts. Was den Umfang der finanziellen Förderung betrifft, so ist darauf zu beharren, daß sie die Erfüllung der Genehmi­gungsvoraussetzungen auf Dauer sicherstellen soll. Vogel redet hier von einem Grundbedarf, während das Bundesverfassungsgericht lange mißverständlich von einem "Existenz­minimum" gesprochen hat.32 Vogel fragt also in die Richtung, wie weit Finanzhilferegelungen der Förderung der Funktion Freier Schulen dienen, das staatliche Schulwesen zu berei­chern durch vielfältige, gelichwertige Angebote und auch zu kritisieren.


Über die Schulkritik hinaus

Die finanzielle Förderpflicht des Staates (auch Grund- und Hauptschu­len in freier Trägerschaft gegenüber, s. Art. 7 Abs. 5 GG) geht darauf, daß jeder Mensch die freie Wahl zwischen staatlicher Schule und Schule in freier Trägerschaft hat, in jedem Fall dann, wenn es sich um Schulen in freier Trägerschaft mit einer pädagogischen Prägung handelt, die sich im staatli­chen Schulsystem nicht findet.33 Ivan Illich hat seine Kritik der Erziehung und der Schule verbunden mit der Kritik an Entwicklungsvorhaben der Reichen in Ländern der sogenannten Dritten Welt. Er stellt damit freilich die Menschen nicht allein vor die Wahl zwischen zwei Schulformen. Die Gewalt der Schule und jener Erzie­hung wird wahrgenommen, die immer mehr Menschen aus ihrer Subsistenz herauszieht, in geringwertige Lohn­arbeit und breite Schattenarbeit hineinzwingt. Auf der Suche nach Entschulung und Entziehung verweist Illich auf eine früher in Spanien verbreitete freie und eigene Form der Gerichtsbarkeit eines jeden Tals, die jeder Ort auch gegen die königliche Gerichtsbarkeit verteidigen konnte. Aus der Sphäre des Rechts heraus wird als Überschreitung der Erzie­hung das Forum seitens einer Ge­meinschaft proklamiert, der Aufbau von Subsistenz.34

In seinen "Perspektiven befreiten und entschulten Lernens" hat Heinrich Dauber Illich und Freire das Ver­dienst zuerkannt, als Wanderer zwi­schen der sogenannten unterentwic­kelten und der sogenannten entwic­kelten Welt die Funktionen und Folgen schulisch organisierten Lernen verdeutlicht zu haben. "Beide haben gezeigt, daß die soziale und ökono­mische 'Entwicklung' der abhängig gehaltenen Länder der Dritten Welt ebenso wie die Begrenzung der indu­striell‑kapitalistischen Wachstums in den Metropolen ‑ und damit ein humanes Überleben aller ‑ nicht zuletzt davon abhängt, ob es gelingt, hier wie dort umfassende politische Lernprozesse einzuleiten. Beide gehen in ihrem Ziel weit über die Behebung einer Schul‑ oder Erzie­hungskrise hinaus. Beiden geht es darum, daß Menschen die Wirklich­keit, in der sie leben, bewußt verste­hen, selbst kontrollieren und Gemein­schaft mit anderen autonom gestalten können."35

Paulo Freire sucht angesichts der "Verletzung der Menschlichkeit des Menschen" in seiner problemformu­lierenden Bildungsarbeit, die eine humanistische und befreiende Praxis darstellen soll, nach einer geschicht­lichen Berufung des Menschen, der nicht fatalistisch gebeugt wird unter die historische Wirklichkeit. "Das Streben nach voller Menschlichkeit kann jedoch nicht in Isolation oder Individualismus vor sich gehen, son­dern nur in Gemeinschaft und Soli­darität. Sie kann sich deswegen nicht in den antagonistischen Beziehungen zwischen Unterdrücker und Unter­drückten entfalten. Keiner kann echt menschlich sein, während er andere daran hindert, dies zu sein. Wer in individualistischer Weise versucht, mehr Mensch zu sein, gerät in das egoistische Mehr‑Haben: eine Form der Entmenschlichung."36

Freire hat gezeigt, daß die revolutio­näre Bildungsarbeit eine dialogische ist; der Dialog existiert nicht, wo es an der Liebe für Menschen und Welt gebricht. Gegen dieses Gebrechen richten sich auch Freie Schulen auf.



Nachsatz:
Der Verfasser berät als Rechtsanwalt und Privatdozent der Pädagogik unter anderem den Montessori‑Landes­ver­band und verschiedene Schulinitiativen in schulrechtlichen Fragen; s. Arnold Köpcke‑Duttler, Eine Stärkung der Privatschulfreiheit?, in: Montessori-Forum 1/1993, S. 42 ‑ 51 und ders., Martin Schuster, Rat‑ und Tatgeber für Schulgründungs-Initiativen, in: Montes­sori‑Forum Heft 3/1994, S. 41 ff.

1 Hans Eckbert Treu, Zwangsanstalt Schule, Olten 1989, S. 18
2 Die Schulaufsicht des Staates, ein Bereich der Daseinsvorsorge, konkretisiert die staatliche Schul­pflicht, die wiederum mit Art. 1 Abs. 1 GG (Men­schenwürde) und mit dem Sozialstaatsprinzip verbun­den wird (s. Maunz‑Dürig, Grundgesetz, München 1995, Art. 7 Nr. 4 b). Schulaufsicht des Staates und Elternrecht begrenzen einander und sollen sich doch verbinden in dem gemeinsamen Ziel, "das Kind bei der Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der Gemeinschaft zu unterstützen und zu fördern."
3 s. Joachim Schroeder, Freire und die Schule, in: Joachim Dabisch, Heinz Schulze (Hg.) Befreiung und Menschlichkeit, München 1991, S. 215 ff.
4 Paulo Freire, Hacia una pedagogía de la pregunta, Buenos Aires 1986
5 Freire, Pedagogía: diálogo y conflicto, Buenos Aires 1987, zit. n. Joachim Schroeder, Freire und die Schule, a.a.O. S. 220
6 Freire, Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek 1990, S. 57 ff.
7 Freire,/Frei Betto, Schule die Leben heißt, Mün­chen 1986, S. 111
8 Dom Helder Camara, Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, Graz/Wien/Köln 1973, S. 8
9 s. Ulrich Klemm, Thesen zur Verfaßtheit der Staatsschule, in: Johannes Heimrath (Hg.) Die Entfesselung der Kreativität. Das Menschenrecht auf Schulvermeidung, Wolfratshausen 1988, S. 14 ff.
10 s. A. Leschinsky/P. M. Roeder, Schule im histori­schen Prozeß, Frankfurt 1983; s. a. Hans Moller, Die Schulpflicht als Rechtsaltertum, in: Die Entfesselung der Kreativität, a.a.O. S. 37 ff.; Peter Vogel, Die bürokratische Schule, Kastellaum 1977
11 Hellmut Becker, Widersprüche aushalten, Mün­chen 1992, S. 169; s. a. Johann Peter Vogel, Funktion und Bedeutung der Schulen in freier Trägerschaft nach 40 Jahren Grundgesetz, in: Neue Sammlung 1989, S. 344 ff.
12 s. Schule im Rechtsstaat, Bd. I, München 1981
13 Becker, Widersprüche aushalten, a.a.O. S. 172
s. a. Vogel, Die Privatschulbestimmungen des Grundgesetzes ‑ ein Verfassungsmodell für das gesamte Schulwesen?, in: Neue Sammlung 1988, S. 367 ff.
14 Peter Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, Bern/Stuttgart 1984, S. 149
15 Becker, Zur öffentlichen Bedeutung privater Initiativen und zum Verrechtlichungsproblem im Bildungswesen, in: Neue Sammlung 1988, S. 355 ff.
16 s. Ulrich K. Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, Stuttgart 1969

17 Clemens Menze, Staat und Schule, in: Vierteljahrs­schrift für wissenschaftliche Pädagogik 1974, S. 28; s. a. Peter Vogel, Kritik der Staatspädagogik, in: ZfPäd 1982, S. 123 ff.
18 Menze, Über die Notwendigkeit eines Freien Schulwesens, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftli­che Pädagogik 1972, S. 220
19 Geort Picht, Vorwort, in: Soziale Funktion der Freien Schulen in der Bundesrepublik Deutschland, 2 Stuttgart 1976, S. 10
20 Deutsches Verwaltungsblatt 1988, S. 587
21 BVerfGE 75, S. 40 ff.
22 in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 1994, S. 129 ff.
23 Pieroth, Die staatliche Ersatzschulfinanzierung und der Schulhausbau, in: Die öffentliche Verwaltung 1992, S. 594
24 Johann Peter Vogel, Das Recht der Schulen und Heime in freier Trägerschaft, Neuwied 1991, S. 43
25 Dieter Falckenberg, Grundriß des Schulrechts in Bayern, Neuwied u. a. 1986 S. 184
26 BayVBl 1988, S. 529
27 Ludwig Gramlich, Neuere Probleme der Pivat­schulförderung, in: BayVBl 1987, S. 491
28 Deutsches Verwaltungsblatt 1994, S. 747
29 Deutsches Verwaltungsblatt 1994, S. 751; s. Hans Heckel/Hermann Avenarius, Schulrechtskunde, Neuwied/Darmstadt 1986, S. 152 ff.
30 Vogel, Das Recht der Schulen und Heime in freier Trägerschaft, a.a.O. S. 43
31 s. Vogel, Goldener Käfig oder Förderung freier Initiativen?, in: Goldschmidt, Roeder (Hg.) Alternati­ve Schulen?, Stuttgart 1979, S. 136
32 Frank‑Rüdiger Jach, Schulvielfalt als Verfassungs­gebot, Berlin 1991, S. 53 f.; zum Zusammenhang zwischen Selbstverwaltung und Finanzautonomie s. Hans Heckel, Autonomie, Demokratie und Partizipa­tion an der Schule, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 1971, S. 130
33 Ivan Illich, Vom Recht auf Gemeinheit, Reinbek 1982, S. 63. ‑ "Verschulte Menschen vergessen, daß Erziehung, also Lernproduktion, nur eine Krücke ist." (S. 72).
S. Hartmut von Hentig, Was ist eine humane Schu­le?, München/Wien 1976, S. 117 ff.
34 Heinrich Dauber, Radikale Schulkritik als Schul­theorie? Kulturrevolutionäre Perspektiven bei Freire und Illich, in: Klaus‑Jürgen Tillmann (Hg.) Schul­theorien, Hamburg 1993, S. 111 f.; s. a. Beck, Dauber u. a., Das Recht auf Ungezogenheit, Reinbek 1983
35 Freire, Pädagogik der Unterdrückten, a.a.O., S. 69;

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