Wie aber handelt ihr? Antworten von MitarbeiterInnen aus Gemeinwesenarbeit und kirchlicher Jugendarbeit zfbp7 teil 1
zeitschrift für befreiende pädagogik nr. 7 / 1995 - Teil 1
aus dem Archiv der Paulo-Freire Gesellschaft, damals München, aufbereitet:
Eva-Maria Antz / Andreas Baumgärtner
Wie aber handelt ihr ?
Antworten von MitarbeiterInnen aus Gemeinwesenarbeit
und kirchlicher Jugendarbeit
Für viele Menschen stand und steht der Begriff "Befreiende Pädagogik" für eine engagierte Pädagogik und für den eigenen befreienden Lernprozess.
Die theoretischen und praktischen Ansätze, wie sie z.B. Paulo Freire in der "Pädagogik der Unterdrückten" in den 70-er Jahren formuliert hat, haben viele inspiriert und motiviert.
Die Praxis selbst hat sich weiterentwickelt: in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern Paulo Freires, in den unzähligen Ansätzen der "education popular" in verschiedenen Ländern Lateinamerikas, in Basisbewegungen.
Auch in Europa haben viele Einzelne, Initiativen und Institutionen den Ansatz einer befreienden Pädagogik aufgegriffen, integriert, verändert. Was aber bedeutet befreiende Pädagogik im deutschen Kontext?
Handelt es um einen Oberbegriff, unter dem sich alle möglichen Richtungen von politischer, emanzipatorischer Pädagogik einordnen lassen?
Steht dieses Stichwort für die Erinnerung an eine Zeit, in der im gesellschaftlichen Aufbruch der 70-er Jah re nach befreienden Methoden in der Pädagogik gesucht wurde? Ist befreiende Pädagogik heute bedeutsam und wirksam?
Wir wollen in diesem Heft auf Spurensuche gehen. Wer hat in seiner Praxis den Ansatz einer befreienden Pädagogik in Deutschland aufgegriffen - auch wenn vielleicht eine andere Terminologie benutzt wird? Welche Bedeutung haben einzelne Elemente dieser Pädagogik für die Praxis?
Dazu haben wir als mögliche Träger einer befreienden Pädagogik Mitarbeiterinnen bzw. VertreterInnen der Gemeinwesenarbeit und der kirchlichen Jugendarbeit befragt. Die Auswahl dieser beiden Praxisbereiche ist weder repräsentativ noch ausreichend für eine umfassende Untersuchung.
Bei dieser Spurensuche haben wir uns vielmehr leiten lassen durch unsere persönlichen und biographischen Kontakte zu solchen Initiativen - und weil beide ein Potential für mögliche befreiende Wege in unserer Gesellschaft enthalten.
Gemeinwesenarbeit steht für ein spezifisches Arbeitsprinzip und geht über Ansätze der Sozialarbeit von Einzel- und Gruppenarbeit hinaus. Sie nimmt die Lebenswelt von Menschen in einem lokal umgrenzten Bereich, einem Wohngebiet oder einem Stadtteil in den Blick und achtet in besonderer Weise auf die Stärken und Fähigkeiten der Menschen im Stadtteil.
Sie ist neugierig, indem sie danach fragt, wie die Menschen leben, wie sie sich äußern, welche Ideen und Sorgen es gibt.
Gemeinwesenarbeit will erfahren, wie die Lebenswelt von den Menschen wahrgenommen und verarbeitet wird. In ihren Aktionen bezieht sie die Menschen mit ein und stellt deren Interessen in den Vordergrund. Ziel ist es, mit vielfältigen Methoden und auf unterschiedlichste Weise Menschen zu gemeinsamen Lern- und Handlungs prozessen zu aktivieren.
Sie ist an Beteiligung und Eigentätigkeit der Menschen orientiert. Im Ideal übernimmt sie keine Aufgaben, die von den Menschen im Stadtteil nicht auch selbst erledigt werden können.
Gemeinwesenarbeit knüpft soziale Netze und initiiert Nachbarschaft. Nachbar schaft ist eine bedeutende Ressource für das Leben von Menschen. "Hier wird emotionale Unterstützung geleistet, hier gewinne ich mein Selbstwertgefühl, hier beziehe ich praktische Alltagshilfe.
Für alle denkbaren Probleme, von der Schwangerschaft bis zum Verlust einer wichtigen Vertrauensperson, von der Arbeitslosigkeit bis zu schweren körperlichen Krankheiten, gibt es beweiskräftige Befunde, daß Verfügbarkeit und Qualität von Hilfe und Unterstützung aus dem eigenen Beziehungsnetz entscheidend dafür sind, wie wir mit einem solchen Problem zurechtkommen."
(Heiner Keupp: Gemeindepsychologie. Alternative zum Psycho-Kult? In: Neue Praxis, 20 [1990], 2, S. 168-177)
Analog zur Gemeinwesenarbeit wird auch von Nachbarschaftsarbeit und so zio-bzw. sozial-kultureller Arbeit gesprochen. Jeweils einheitliche Definitionen gibt es nicht. Unterschiede sind u.a. in den Traditionslinien und in der Reichweite einer politischen Begründung der Arbeit auszumachen. "Gemeinwesenarbeit" drückt u.E. am ehesten die politischen Implikationen dieses Arbeitsansatzes aus: Verbesserung von Notlagen (Wohnen, Sozialhilfe, Infrastrukturversorgung), kollektive Praxis, Aktivierung, (kommunal-) politische Einmischung usw.
Auch die Kirche ist ein möglicher Ort, in dem Nachbarschaft sich organisiert. In den lokalen Ortsgemeinden treffen sich Menschen sowohl um ihre Religiosität zu teilen und zu feiern, aber auch um Zeit miteinander zu verbringen und sich konkret gegenseitig zu unterstützen.
Der Glauben, der die Menschen verbindet, enthält in seiner Anlage auch die Vision einer menschlichen, geschwisterlichen Welt und kann zu sehr deutlichen gesellschaftspolitischen Positionen und zur Wahrnehmung zahlreicher gesellschaftlicher Aufgaben (von caritativer und diakonischer Arbeit bis hin zur Bildungsarbeit) führen.
Und so galt die Kirche lange als eine bedeutsame gesellschaftliche Kraft. Diese Bedeutung schwindet in einer Zeit, in der viel Energie für innere Konflikte bzw. häufig sehr unzulängliches Konfliktverhalten verbraucht wird und sich die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität, zwischen Theorie und Praxis nur allzu oft zur Unglaubwürdigkeit entwickelt. Denn noch existieren immer noch zahlreiche kirchliche Strukturen, die nicht erstarrt sind, sondern in denen MitarbeiterInnen eine bedeutsame pädagogische Arbeit leisten.
Eine eigene Bedeutung hat die Jugendarbeit. Mit dem Aufbruchswunsch und dem Mut der Jugend, den status quo der Herrschenden zu hinterfragen, suchen gerade Jugendverbände und Jugendgruppen jeweils neue Wege gemeinschaftlicher Reflexion und Aktion und formulieren oft deutlich gesellschaftskritische Positionen.
Wir haben MitarbeiterInnen bzw. Vertreterinnen beider Arbeitsfelder angesprochen und sie um eine Beschreibung ihres Arbeitsfeldes und -ansatzes gebeten.
In den AutorInnen haben wir also keine ExpertInnen der Freire-Pädagogik gesucht, sondern Menschen, die eine engagierte Arbeit leisten und die bereit sind, diese zu reflektieren und als Erfah rungen zu formulieren. Dabei gibt es keine allgemeingültige Definition von befreiender Pädagogik. Uns interessiert die konkrete Praxis und deren Reflexion.
Mit welchen Anforderungen sind Gemeinwesenarbeit und kirchliche Jugend arbeit konfrontiert?
Welche Zielvorstellungen sind dabei leitend?
Welche Methoden werden praktiziert?
Welche Entwicklungen wurden vollzogen und welche Veränderungen werden wahrgenommen?
Wichtig war es uns auch, die AutorInnen zu einer biographischen Betrachtung einzuladen und eigene Zugänge in ihre Aufsätze einfließen zu lassen.
Wolfgang Hinte lehrt seit vielen Jahren an der Universität-Gesamthochschule Essen im Fachbereich Erziehungswissenschaften und hat mehr als 20 Jahre Erfahrung in der Gemeinwesenarbeit.
In seinem Artikel "Die Verhältnisse ändern, nicht die Menschen" beschreibt er eigene Wurzeln und Entwicklungen, die er vollzogen hat. Für ihn haben sich sog. klare Fronten aufgelöst und der Mensch rückte in den Mittelpunkt seiner Betrachtung.
Hinte fragt danach, wie wir heute gesellschaftliche Veränderung definieren und uns wünschen. Ausgehend von Auseinandersetzungen mit für ihn wichtigen AutorInnen u.a. mit Ruth Cohn, Carl Rogers, Ekkehardt von Braunmühl, Jean-Paul Sartre entwickelt er einen Begriff von Befreiung:
"(...) der Pädagoge ist insofern frei, als er nicht darauf fixiert ist, die Menschen anders zu machen, und die Menschen sind insofern frei, als ihnen überzeugend vermittelt wird, daß sie (...) sich auf ihre Weise entscheiden können."
Hier entfaltet sich ein Verständnis von Gemeinwesenarbeit als Prozessbegleitung, die nicht fixiert ist auf ein (von wem eigentlich definiertes?) Ziel. Mit einem wachen Blick für die realen gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse hält Hinte an der Suche nach Lösungen fest und ermutigt zu einer Gemeinwesenarbeit, die "Kompromisse, langen Atem und einen starken Glauben an sich und andere" beinhaltet.
Angelika Klauth arbeitet als Gemeinwesenarbeiterin in einem benachteiligten Stadtteil in Köln. In ihrem Aufsatz "Ja, und dann wurde es plötzlich wichtig, was wir uns zu sagen hatten!" beschreibt sie konkrete und reichhaltige Erfahrungen aus ihrer beruflichen Praxis der letzten Jahre.
Sie umreißt zunächst das Menschenbild, das ihren Vorstellungen von Gemeinwesenarbeit zugrunde liegt und eine große Nähe zu Ansätzen von Paulo Freire aufweist.
Am Problembereich "Wohnen und Miete" stellt sie ausführlich und differenziert mehrjährige Prozesse der Gemeinwesenarbeit dar: eine Geschichte von Erfolgen, aber auch Grenzen. Ausgangspunkt bildet immer das Zusammenkommen von Menschen, der Prozess von Sprachfindung und gemeinsamer Verständigung.
Klauth reflektiert darüber hinaus auch ihre Rolle als "Profi": "Meine Aufgabe ist es, Kommunikation in Gang zu setzen und zu halten." Dies ist keine neutrale Praxis und ihr ist es immer wichtiger, "(...) selbst Positionen zu beziehen, Missstände anzuprangern und an die Öffentlichkeit zu tragen."
Rainer Kascha ist nach den Stationen "Eschhaus" in Duisburg und "Börse" in Wuppertal heute als Referent bei einem Wohlfahrtsverband tätig. "Verdam ... wenigstens haben wir es probiert" steht als Titel programmatisch für Aufbruchs versuche und auch das Scheitern soziokultureller Initiativen, die sich immer auch gegen eine "sozialarbeiterische" Gemeinwesenarbeit abgegrenzt haben und abgrenzen.
In seinem Artikel erzählt Kascha eine pointierte Geschichte soziokultureller Zentren und verknüpft sie mit zeitgeschichtlichen Anlässen und Entwicklungen.
Kascha stellt ein klares Scheitern vieler soziokultureller Initiativen fest und verdeutlicht dies an der Entwicklung des bundesweit bekannten Zentrum "Börse an der Viehhofstraße" in Wuppertal.
Ursachen sieht er sowohl in Phänomen einer "mächtigen Gesellschaft" als auch in eigenen, inneren Konflikten und Widersprüchen ihrer ProtagonistInnen.
Trotz allem und trotz aller Resignation hält Kascha an den Leitbegriffen des Feldes "Soziokultur" fest: "Emanzipation, Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Engage ment und Kommunikation. (...)
Auf ihre Art versucht es jede Generation, so bleibt zu hoffen."
Sein Fazit insgesamt fällt weniger ermutigend aus. Durch fehlende Verarbeitung von Entwicklungsprozessen und fehlende kritische Aufarbeitung von internen Widersprüchen kann dem Scheitern nichts entgegengesetzt werden.
Der Aufsatz von Andreas Baumgärtner geht weniger auf konkrete Praxis ein, sondern verweist auf Traditionslinien und grundlegende Konzepte der Gemeinwesenarbeit.
"Du sollst Dir (k)ein Bildnis machen" betrachtet das Menschenbild in der Gemeinwesenarbeit unter drei Aspekten. Baumgärtner geht ausführlich auf Ursprünge der Gemeinwesenarbeit aus der Zeit der Früh-Industrialisierung und auf frühe Erfahrungen in Deutschland in den 10-er und 20-er Jahren ein.
Im anschließend beschriebenen "Lebensweltkonzept" der Gemeinwesenarbeit kommen Eigentätigkeit des Menschen und gesellschaftliche Bedingungen zum Tragen:
"Die Umwelt wirkt auf uns, unser Leben und unsere Lebensgestaltung ein, zugleich aber beeinflussen, verändern und gestalten wir unsere Umwelt."
Hieraus leitet sich ein "Auftrag" an Gemeinwesenarbeit ab, sowohl den einzelnen Menschen als auch die objektiv vorhandenen Lebensumstände in den Blick zu nehmen.
Mit der Deutung des Menschen als ein "Wesen des Dialogs" werden von Baumgärtner Überschneidungen zwi schen Gemeinwesenarbeit und der befreienden Pädagogik von Freire herausgearbeitet. Daraus erwächst für ihn die besondere Bedeutung des Dialogs als spezifische Haltung für und von Gemeinwesenarbeit.
Ralf-Erik Posselt ist Sprecher der Arbeitsgruppe SOS-Rassismus und arbeitet im Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche in Westfalen.
Die Frage "Aus der Befreiung leben?" verknüpft Posselt unmittelbar mit Gewalt, Gewalt erfahrung und Rassismus. Er definiert diese Begriffe und entwickelt daraus das Konzept von COURAGE.
"Menschen stark zu machen, heißt, ihnen Raum zu geben, sie zu beteiligen, auf sie zuzugehen, sie einzuladen, ihnen zuzuhören und ihnen Mut zu machen, ihre Courage zu zeigen und praktisch werden zu lassen."
Die Praxis von COURAGE wird von Posselt in "30 guten und bitteren Erfahrungen zum Umgang mit Gewalt und Rassismus in Kinder- und Jugend-Szenen" gebündelt. In den Konsequenzen, die Posselt aus diesen Erfahrungen zieht, lenkt er den Blick auf politische und finanzielle Rahmenbedingungen befreiender Praxis. Guter Wille allein reicht nicht.
Rudi-Karl Pahnke ist evangelischer Pfarrer und berichtet von der Bedeutung und Wirkungsgeschichte der Pädagogik Paulo Freires in der DDR. Lernen - wo es mehr ist als Fütterung - ist ein revolutionärer Vorgang.
Unter diesem Titel weist Pahnke darauf hin, daß die Beschäftigung mit der Freire-Pädagogik vor allem zu einer scharfen Wahrnehmung und Kritik des Bildungssystems als "Bankiersmethode" führte:
in der damaligen DDR wie auch in der heutigen Zeit nach der sogenannten Wende. Gleichzeitig stand die Freire-Pädagogik auch für die Ermutigung, "humane und pädagogische Luft zum Atmen" und führte zur Entwicklung konkreter Bildungs-Alternativen, wie z.B. bei einem Volkshochschulkonzept.
Offen ist und bleibt die Frage, wohin diese Geschichte der Auseinandersetzung mit der befreienden Pädagogik in der DDR heute führt, vielleicht läßt sich darauf später eine Antwort geben.
Odilo Metzler schreibt aus der 10 jährigen Erfahrung als Diözesanleiter des BDKJ (katholischer Dachverband verschiedener Jugendverbände) heraus. Unter dem Titel Grenzen sprengen und an Grenzen stoßen beschreibt er Ursprünge, Aufbau, Anliegen und Motivationen von katholischen Jugendverbänden.
Dabei werden sowohl die persönlichen wie auch politischen Lernerfahrungen, die Jugendliche und junge Erwachsene in den Verbänden als mögliche Orte befreiender Praxis erleben können, deutlich.
Solche kollektiven Lernerfahrungen können auch zu Konflikten mit der Kirche führen, wie Metzler an einem Beispiel deutlich macht. "Jugendverbände sind gleichermaßen Lernorte für eine Basiskirche und für eine demokratische Gesellschaft."
Angesichts der aktuellen und neuen Herausforderungen, denen sich Jugendverbände stellen müssen, wird diese Arbeit auch schwieriger - da bei sind die Erfahrungen befreiender Praxis unverzichtbar.
Sabine Gottschalk arbeitet in der Bezirksleitung bei einem katholischen Jugendverband, der Christlichen Arbeiterjugend CAJ, die als Verband vor allem "benachteiligte" Jugendliche anspricht und erreicht. Die Frage "Wie aber handelt ihr?" beantwortet sie sehr persönlich mit ihrer eigenen Geschichte und einer Reflektion ihrer Praxis.
Sie beginnt mit der skeptischen Frage, ob "Freire sich (...) im Potential (Mensch) verschätzt hat". Dagegen stellt sie ihr Erleben: "Leute haben Lust, mitzumischen und sich mit ihren Interessen einzumischen."
Ausgangspunkt und Ziel ihrer Praxis ist die Eigenverantwortlichkeit des Menschen, was sie exemplarisch am Beispiel der "Politaktion" im sog. Superwahljahr 1994 durch den Regionalverband Mönchengladbach der CAJ, beschreibt.
Gottschalk hebt die Bedeutung kreativer und experimenteller Methoden hervor, deren Gebrauch zu Wahrnehmungserweiterung, kollektiven Entscheidungsprozessen und Aktionen führt: "Sehen - Urteilen -Handeln".
Eva-Maria Antz ist Bildungsreferentin in der Jugendakademie Walberberg, einer außerschulischen Jugendbildungsstätte. "Erfahrungen wertschätzen" kennzeichnet Programm und Praxis der Jugendakademie. Antz geht in ihrem Aufsatz von der Schwierigkeit aus, in einer "Kultur der Konzentration auf sich selbst" politischer und solidarischer Handlungsfähigkeit bei Jugendlichen Raum zu geben.
Ihre Erfahrung ist, daß der "objektiven" Analyse von Politkverdrossenheit sehr wohl ein "intuitives Problembewusstsein" bei Jugendlichen gegenüber steht. Hieraus leitet sich für sie ab, Jugendlichen unvoreingenommen zu begegnen und in einem dialogischen Prozeß eigene und fremde Erfahrungen in den Mittelpunkt zu stellen.
An dem Beispiel der Begegnung von Jugendlichen mit ZeitzeugInnen werden Dialog und dialogische Lernstrukturen als zentrale Elemente der Praxis dargestellt.
Für Antz ist die Verschränkung individueller und gesellschaftlicher Befreiung grundlegendes Anliegen und Ziel ihrer Praxis: persönliches Wachstum ist eingebunden in soziale Zusammenhänge, in Begegnung und Aktionen.
Konsequenzen hat dieser Ansatz auch für die PädagogInnen, deren Rolle sowohl durch professionelle Kompetenz als auch durch eine Haltung von Neugierde gekennzeichnet ist.
"Neugierig" waren wir als HeftredakteurInnen auch darauf, ob dieses Heft überhaupt zustande käme. Wir haben zwei "Anläufe" zur Fertigstellung dieses Heftes nehmen müssen.
Zunächst hatten wir zwölf Fragestellungen formuliert und an etwa 20 Menschen aus der Gemeinwesenarbeit und kirchlichen Jugendarbeit geschickt. Die Fragen bezogen sich auf zentrale Aspekte der Freire-Pädagogik und deren Bedeutung für die jeweilige Praxis.
Auf diese Anfrage gab es nur einen geringen Rücklauf. Offensichtlich waren unsere Fragen doch zu erschlagend und als Folie für eine Praxisreflexion nicht geeignet.
Vielleicht liegt hier aber auch ein Hinweis darauf, daß Begriffe wie befreiende Praxis, Aktivierung, politisches Bewußtsein, solidarisches Handeln, Dialog usw. nicht mehr selbstverständlich zur Alltags- und Fachsprache gehören.
Kein Zufall ist es, daß in der Gemeinwesenarbeit und in der kirchlichen Jugendarbeit - und über beide Arbeitsbereiche - zur Zeit intensive Diskussionen über ihre inhaltliche Ausrichtung stattfinden.
Wie politisch und verändernd "dürfen" Gemeinwesenarbeit und kirchliche Jugendarbeit sein? Kritische und innovative Ansätze scheinen unserer Beobachtung nach immer weniger Spiel- und Freiraum zu haben.
In Zeiten knapper werdender - und knapper gemachter - finanzieller Mittel und der damit verbundenen politischen Einengung gehen bei vielen MitarbeiterInnen und Einrichtungen zunehmend Kraft und Energie in Besitzstandswahrung auf.
Paulo Freire hat für viele ProtagonistIn nen in der Gemeinwesenarbeit und kirchlichen Jugendarbeit eine zentrale Rolle gespielt: als Vision für die pädagogische Arbeit und deren politische Verankerung sowie als innovatives und sperriges Konzept in der deutschen Sozialarbeits-/P dagogik-Landschaft.
Für viele hat die Aneignung und Reflexion des Freire-Konzepts zu pers nli chen Veränderungen und Bewegungen gef hrt, die weit in die persönliche Biographie hineinreichen.
Offensichtlich scheint diese "Konjunktur" und Prägekraft aus den siebziger Jahren verloren gegangen zu sein. Viele Aufsätze und Erfahrungen, die uns mitgeteilt wurden, verweisen darauf, da die "großen Entwürfe" heute eher zu kleinen Zielen und Schritten geworden sind.
Die Konzeption Freires wird hierbei nicht mehr explizit reflektiert. Die Suche nach befreiender Praxis wurde jedoch unverändert weitergeführt. Unser Eindruck ist, da diese Suchbewegungen verstärkt auf einer persönlicher Ebene stattfinden.
Ungeachtet dessen bestätigen einige Artikel die Übertragung befreiender Praxis in institutionellen, systemischen Zusammenhängen. Auffällig ist, da mehrere AutorInnen auf die Bedeutung des Dialogs als Instrument und zentralen Mittelpunkt einer befreienden Praxis hinweisen.
Ist hier eine Spur für die fortdauernde Gültigkeit des Freire-Ansatzes unter ver nderten Bedingungen zu finden?
So deutlich der Dialog benannt und damit eine spezifische Haltung entfaltet wird, so sehr bestätigen die Aufsätze uns ein weiteres und zentrales Anliegen des Konzepts von Paulo Freire: Erziehung und Pädagogik sind niemals neutral. Das führt zu Auseinandersetzungen und Konfrontationen und verlangt eine parteiliche Haltung.
Was sind meine Ziele? Wem gegenüber fühle ich mich in meiner Arbeit verpflichtet? Wie aber handele ich? Die Paulo Freire Gesellschaft will den kritischen und politischen Ansätzen ein Sprachrohr bieten.
Eva Maria Antz
Andreas Baumgärtner
Bertolt Brecht: Der Zweifler
Immer wenn uns eine Antwort auf eine Frage gefunden schien
Löste einer von uns an der Wand die Schnur der alten
Aufgerollten chinesischen Leinwand, so da sie herabfiel und
Sichtbar wurde der Mann auf der Bank, der
So sehr zweifelte.
Ich, sagte er uns
Bin der Zweifler, ich zweifle, ob
Die Arbeit gelungen ist, die eure Tage verschlungen hat.
Ob, was ihr gesagt, auch schlechter gesagt, noch für einige Wert hätte.
Ob ihr es aber gut gesagt und euch nicht etwa
Auf die Wahrheit verlassen habt dessen, was ihr gesagt habt.
Ob es nicht vieldeutig ist, für jeden möglichen Irrtum
Tragt ihr die Schuld. Es kann auch eindeutig sein
Und den Widerspruch aus den Dingen entfernen; ist es zu eindeutig?
Dann ist es unbrauchbar was ihr sagt. Euer Ding ist dann leblos.
Seid ihr wirklich im Fluss des Geschehens? Einverstanden mit
Allem, was wird? Werdet ihr noch? Wer seid ihr? Zu wem
Sprecht ihr? Wem nützt es, was ihr sagt? Und nebenbei:
Läßt es euch nüchtern? Ist es am Morgen zu lesen?
Ist es auch angeknüpft an Vorhandenes? Sind die Sätze, die
Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? Ist alles belegbar?
Durch Erfahrung? Durch welche? Aber vor allem
Immer wieder vor allem anderen: Wie handelt man
Wenn man euch glaubt, was ihr sagt? Vor allem: Wie handelt man?
Nachdenklich betrachten wir mit Neugier den zweifelnden
Blauen Mann auf der Leinwand, sahen uns an und
Begannen von vorne.
(Bert Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 587 ff.)
Wolfgang Hinte
Die Verhältnisse ändern, nicht die Menschen
"Befreiende Erziehungsarbeit besteht in Aktionen der Erkenntnis, nicht in der Übermittlung von Informationen." (Freire 1973, S. 64)
Angesichts einer (westdeutschen) Pädagogik, die die Menschen belehrte, mit Lehrstoff vollstopfte, den Kopf vom Körper abkoppelte, die Schule vom Leben trennte und einseitig auf Frontalunterricht setzte, fielen Gedanken von Paulo Freire Anfang der 70er Jahre bei mir, der ich unzufrieden, suchend, voller Tatendrang, rebellisch und kritisch gegenüber "dem System" eingestellt war, auf fruchtbaren Boden.
Gemeinwesenarbeit war damals für uns ein Arbeitsansatz, mit dem wir viele Ideale zu realisieren hofften: die Aufhebung von Unterdrückung, die Beseitigung der Ursachen für Armut, Ungerechtigkeit und Ungleichverteilung von Gütern, die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen, gründend auf der Betroffenheit und Solidarität der benachteiligten Menschen.
Unsere Propheten waren Richard Hauser, Paulo Freire, Horst-Eberhard Richter, Saul Alinsky und Hans-Eckehard Bahr; unsere Gegner saßen in den Ämtern der Stadtverwaltung, den Wohnungsbaugesellschaften, Pfarrgemeinderäten, Lehrerkollegien und Banken; unsere Verbündeten waren fortschrittliche Pastoren und Kapläne, aufgeklärte Architekten, revolutionär denkende Menschen aus der Hochschule, mutige Journalisten und - so dachten wir - "die Betroffenen".
Wir standen tapfer gegen eine Übermacht, aber die Welt war wenigstens sauber sortiert: hier die moralisch Legitimierten, die Guten, die Entrechteten und Benachteiligten, die Opfer der Verhältnisse - dort die Täter, die Bösen, die Träger des Systems, die Ausbeuter und Unterdrücker.
Heute, Mitte der 90er Jahre, hat sich einiges geändert - oder haben wir uns geändert?
Wir kooperieren mit Vertretern von Politik und Verwaltung, nehmen Geld von großen Unternehmen und sind auch gelegentlich selbst in solchen Funktionen, die wir einst bekämpften.
Was ist da passiert? Haben wir uns an gepaßt? Sind wir dem Establishment auf den Leim gegangen? Hat man uns gekauft? Stimmen die alten Analysen nicht mehr? Sind die Bösen heute nicht mehr böse, und sitzen die Guten woanders? Oder war das damals alles ein großer Irrtum?
In der Tat haben sich durch den Druck der großen sozialen Bewegungen, durch verstärkten Einfluss sozialwissenschaftlicher Fachlichkeit in den Institutionen, durch die wachsende Legitimationskrise von Politik und speziell der politischen Parteien, durch den Druck gesellschaftlicher und sozialer Probleme sowie neuer Problemgruppen, aber auch aufgrund der wachsenden Einsicht von Konzernen in die unter Profit-Gesichtspunkten notwendige Mitbeteiligung von BürgerInnen die in der Theorie einst so klaren Fronten in der Praxis aufgeweicht.
Die alten Feindbilder stimmen nicht mehr. Die UnterdrückerInnen sind gelegentlich recht freundlich, zugänglich und solidarisch, oft fühlen sie sich gar selbst unterdrückt oder zumindest unter Druck, sie reden von Sachzwängen und Handlungsbedarfen und fühlen sich selbst als Spielball unterschiedlichster Interessengruppen.
Und die Unterdrückten, die Betroffenen, denen wir einst die Leviten der Aufklärung lesen wollten? Sie haben sich zumindest in diesem Lande nie so gefühlt, wie die Analysen es nahelegten.
In ihrem Alltag blickten sie ohnehin meist besser durch als diejenigen, die zu ihrer Aufklärung und Bewusstseinsbildung angereist waren; aber auch bezogen auf ihre gesellschaftliche Situation teilten sie nur in Ausnahmefällen die Ansichten derer, die ihnen weismachen wollten, sie werden ausgebeutet, manipuliert und unterdrückt.
Doch schon in den 70er Jahren lernten wir, nicht aufzuklären, sondern nach Themen zu suchen, von denen die Menschen betroffen waren.
Angesichts von kaputten Fensterscheiben, Uneinigkeiten über den wöchentlichen Putzdienst, Hundedreck auf dem Gehsteig, Zertrümmerung von Telefonzellen und demolierten Aufzügen schien die Revolution zwar noch ein wenig entfernt, aber immerhin begannen die Menschen, sich um diese Themen herum zu organisieren.
Sie erfuhren, da es Sinn macht, sich zusammenzutun, miteinander zu reden und sich zu wehren, und damals wie heute gilt: "Ausgangspunkt für die Organisierung des Programm-Inhalts einer pädagogischen und politischen Aktion muß die gegenwärtige existentielle und konkrete Situation sein ...
Wir dürfen nie bloß über die gegenwärtige Situation reden, wir dürfen nie den Menschen Programme überstülpen, die wenig oder nichts mit ihren eigenen Sorgen, Zweifeln, Hoffnungen und Befürchtungen zu tun haben - Programme, die manchmal die Furcht des unterdrückten Bewußtseins bloß noch vermehren." (Freire 1973, S.78/79)
Meine Erfahrungen aus mittlerweile über 20 Jahren Gemeinwesen-und Stadtteilarbeit in verschiedenen Funktionen (Betroffener, Gemeinwesenarbeiter, Berater von Betroffenen- Gruppen sowie von Teams von Professionellen, Organisator und schließlich Leiter einer Einrichtung, die GWA-Projekte trägt, auswertet, darüber publiziert und ausbildet), führen mich zu einer differenzierteren Sichtweise bezüglich meiner Vorstellungen von gesellschaftlicher Veränderung, menschlicher Existenz und Bewusstseinsbildung.
Dabei schöpfe ich aus vielen eigenen Erfahrungen, aber auch aus den Gedanken einiger Autorinnen, von denen manche im folgenden "zu Wort" kommen. Zitieren ist folglich unvermeidlich: nicht, um wissenschaftlichen Standards zu genügen, sondern aus Respekt und Dank an die, von denen ich gelernt habe.
"Ich glaube, man kann keinen Menschen je berzeugen. Man kann nur die eigene Meinung immer wieder aussprechen und Situationen schaffen, in denen diese Meinung gehört wird und man selbst authentisch seinen eigenen Werten gemäß lebt. Was der andere mit dieser Meinung macht, steht nicht in meiner Macht." (Cohn 1989, S. 120)
Von großer Bedeutung war für mich die Erkenntnis, daß eine erzieherische Einstellung uns von den Menschen trennt, zu denen wir vorgeben, Kontakt aufnehmen zu wollen.
Wenn ich meine zu wissen, was für jemanden gut ist, degradiere ich ihn schon zum Objekt. Wer Menschen erklärt, er wolle nur "ihr Bestes", darf sich nicht wundern, wenn sie ihm das Beste nicht geben, nämlich ihren eigenen Willen.
So habe ich denn mittlerweile kein Interesse mehr daran, Menschen zu machen. Denn Menschen gestalten ihr Leben und ihre Umwelt eigen-artig: sie treffen -mehr oder weniger bewußt - Entscheidungen, wählen oft (aus meiner Sicht) skurrile Wege und handeln dabei durchaus plausibel, aber eben auf ihre je eigene Art.
Dies zu respektieren und zu verstehen und gleichzeitig um eigene Standpunkte zu wissen und sie zu benennen, den Menschen also nahe zu treten, ohne ihnen auf die Füße zu treten - das ist die Kunst jeglicher politischer und pädagogischer Arbeit. Dies habe ich umfänglich und differenziert aus der Humanistischen Psychologie (insbesondere von Carl Rogers), der Antipädagogik (insbesondere von E.v.Braunmühl) und dem Existentialismus (Jean Paul Sartre) gelernt.
So begriff ich, daß ich anderen Menschen nicht anerziehen kann, irgendetwas zu wollen. Der Wunsch nach Befreiung oder die Bereitschaft zur Solidarität können nicht anerzogen werden. Sie können im Umgang mit einer veränderten Lebenswelt wachsen, sie können im Kontakt zu mir oder anderen Menschen entstehen, aber letztlich wählen die Menschen selbst, wie sie denken und handeln wollen - und zwar in jeder Lebenssituation.
"Wir können uns als Fliehenden, Ungreifbaren, Zögernden usw. wählen; wir können uns sogar dazu erwählen, uns nicht zu wählen: in diesen verschiedenen Fällen werden Ziele ... gesetzt, und die Verantwortung für diese Ziele fällt uns zu: was auch unser Sein sein mag, es ist Wahl." (Sartre 1962, S. 598)
Engagierte Welt- und Menschenverbesserer werden damit leben müssen, da ihnen die Verhältnisse bisweilen davonlaufen, und das auch in Gestalt von Menschen, die sich anders entscheiden, als es ihnen aufklärend, belehrend, erklärend, aufrüttelnd oder wohlmeinend gesagt wird.
Hier zeigt sich eine weitere wichtige Fähigkeit eines politischen Pädagogen: er akzeptiert ohne Murren, ohne Groll, ohne Entrüstung, ohne Depression und ohne Rachegedanken, wenn Menschen sich anders entscheiden, als er es ihnen nahe legt.
"Vertrauen überwindet Angst" (Hinte u.a. 1995) - dies gilt sowohl bezogen auf den Umgang mit den Adressaten pädagogischer Bemühungen als auch für die Einstellung der Professionellen zu sich selbst. Und vielleicht liegt genau darin ein Stück Befreiung:
der Pädagoge ist insofern frei, als er nicht darauf fixiert ist, die Menschen anders zu machen, und die Menschen sind insofern frei, als ihnen überzeugend vermittelt wird, daß sie, ohne Repressalien befürchten zu müssen, sich auf ihre Weise entscheiden können.
"Mir scheint, daß der Therapeut nur dann die große Stärke und Fähigkeit und Kapazität des Individuums zur konstruktiven Handlung erkennt, wenn er voll und ganz einverstanden ist, da jede Möglichkeit, jede Richtung gewählt wird.
Wenn er damit einverstanden ist, da unter Umständen auch der Tod gewählt wird, dann wird das Leben gewählt werden; wenn die Neurose ebenfalls zur Wahl steht, dann wird die gesunde Normalität gewählt.
Je vollständiger er nach seiner zentralen Hypothese handelt, desto überzeugender ist der Beweis, daß die Hypothese stimmt." (Rogers 1972, S. 59)
Eine solche von Rogers beschriebene Haltung gründet nicht auf empirischen Untersuchungen oder plausibler Beweisführung. Sie beruht - zumindest was mich betrifft - auf Glaubenssätzen, derer ich mir sicher bin.
Und daß mich Glaubenssätze in schwierigen Lebenssituationen tragen können, mag meiner katholischen Sozialisation geschuldet sein, für die ich zumindest an dieser Stelle dankbar bin.
In dem Inhalt des hier zu Rede stehenden Glaubenssatzes bin ich mir mit Paulo Freire einig: "Dialog erfordert darüber hinaus einen intensiven Glauben an den Menschen, einen Glauben an seine Macht, zu schaffen und neu zu schaffen, zu machen und neu zu machen, Glauben an seine Berufung, voller Mensch zu sein (was kein Privileg einer Elite ist, sondern das Geburtsrecht aller Menschen)." (Freire 1973, S. 74)
Nun darf ein solch humanistisches Weltbild nicht den Blick für reale politische Verhältnisse verstellen. Auch wenn Menschen plausibel handeln, richten sie dennoch Schaden bei anderen und in ihrer Umwelt an, sie zerstören andere Menschen und natürliche Lebensgrundlagen, sie errichten Diktaturen und Meinungs-Kartelle.
Dagegen Position zu beziehen, mag jeder auf die ihm eigene Weise tun: in Parteien, Verbänden, Institutionen, Initiativen, mit Resolutionen, Demonstrationen, Aufsätzen und allen möglichen Formen von zivilem Widerstand.
Auf der Ebene der Arbeit im Stadtteil und im Wohnviertel gilt für mich als wichtiger Grundsatz, daß Verhältnisse von Menschen gemacht oder zumindest beeinflußt sind, so da ich folglich versuche, mit den Menschen, die dort tätig sind, ins Gespräch zu kommen.
Ins Gespräch kommen: das kann heißen, zu verhandeln, zu überzeugen, zu erklären, Vorschläge zu machen, aber auch Widerstand zu leisten, sie öffentlich bekämpfen oder Gegenmacht zu organisieren.
Aber da ich eben nicht mehr genau weiß, wo genau die Grenze zwischen gut und böse oder zwischen Opfer und Täter verläuft, gibt es für mich keine grundsätzlichen Feinde.
Es gibt Akteure in Funktionen, und manche von ihnen nehmen ihre Funktion sehr kompetent, human, auf Dialog bedacht und umsichtig wahr: von ihnen lerne ich, mit ihnen kooperiere ich und sage ihnen auch, wenn ich anders denke.
Und manche von ihnen verhalten sich in ihren Funktionen starrköpfig, selbstbezogen, ausbeuterisch, abgrundtief dumm oder unnötig konfrontierend: auch mit ihnen kooperiere ich, aber da wird die Kooperation gelegentlich sehr konfliktreich, weniger dialogisch und mehr durch List, Strategie und Machtspiele geprägt.
Verhältnisse werden indes nur geändert, wenn wir mit unseren Aktionen auf Lösungen zielen, nicht auf Chaos, nicht auf Unerfüllbares, nicht auf naive Utopien. Und wer Lösungen anstrebt, braucht Kompromisse, langen Atem und einen starken Glauben an sich und andere.
All diese Kontakte, Verhandlungen, Kämpfe und Auseinandersetzungen machen Spaß . Sie erfreuen mich jedoch nur dann, wenn ich mich nicht in meiner Betroffenheit verfange, und wenn ich mir angesichts von Ungerechtigkeit, Elend und Gewalt meine innere Beweglichkeit und Leichtigkeit erhalte.
So versuche ich, den Dingen ihre Bedeutung zu lassen und ihnen gleichzeitig die Schwere zu nehmen - ich begegne Menschen und Lebenssituationen sehr ernsthaft und erfreue mich doch immer wieder an situativer Komik, guten Gags, real satirischen Verhaltensweisen und anderen fröhlichen Anlässen in schwierigen Zeiten.
Literatur:
Cohn, R.C., Es geht um's Anteilnehmen ..., Freiburg 1989
Freire, P.; Pädagogik der Unterdrückten, Hamburg 1973
Hauser, R. u. H., Die kommende Gesellschaft, M n chen 1971
Hinte, W./Preu , O./Sensenschmidt, B., Vertrauen überwindet Angst. Beiträge zur Entlastung vom Erziehungsanspruch, Frankfurt a.M. 1995
Rogers, C.R., Die klient-bezogene Gesprächstherapie, München 1972
Sartre, J.P., Das Sein und das Nichts, Hamburg 1962
Wolfgang Hinte
Meine erste zeitgeschichtliche Erinnerung bezieht sich auf die Kuba-Krise. Alle um mich herum waren voller Sorge, wie sich die Amerikaner verhalten würden, denn falls die das taten, was alle befürchteten, würde es Krieg geben.
Irgendwie passierte zwar alles in einer völlig anderen Ecke der Welt, aber man ging davon aus, daß wir sicherlich davon erfaßt würden.
Zu den wichtigen Stationen meines Lebens zähle ich die ca. acht Jahre Jugendarbeit in einer katholischen Ruhrgebiets-Gemeinde mit einem hohen Arbeiteranteil (heute würde man sagen: benachteiligtes Wohngebiet).
Dabei lernte ich (eher urwüchsig, nicht angeleitet, aber außerordentlich wirkungsvoll) die Organisation benachteiligter Bevölkerungsgruppen, Kooperation mit dem Establishment, Aufbau von Gegenmacht, Auseinandersetzung mit den Mächtigen bis hin zu scharfer publizistischer Kriegsführung gegen die Gemeindeleitung.
Die nächste wichtige Station schloss sich nahtlos an: Gemeinwesenarbeit in verschiedenen Stadtteilen im Ruhrgebiet mit vielfältigen Lernerfahrungen im Kontakt zu Stadtteil- BewohnerInnen, KollegInnen und Institutionen.
Aus dieser Lebensphase schöpfe ich auch für meine heutige berufliche Tätigkeit. Diese vergleiche ich gerne mit der eines Zirkusdirektors: ich leite mit einem Kollegen eine Einrichtung, die davon lebt, daß die einzelnen Menschen, zwar untereinander abgestimmt und aufeinander bezogen, aber mit hoher Autonomie, ihren jeweils eigenen Stil ihrer Arbeit (Stadtteilbezogene Soziale Arbeit, Organisationsberatung, Supervision usw.) praktizieren können.
Dieses Ensemble gilt es, durch emotionale Zuwendung und konzeptionelle Anregungen zu unterstützen, aufeinander abzustimmen, es anzubieten, zu erweitern oder - wenn nötig - abzubauen, es mit einer unverwechselbaren Identität auszustatten und gleichzeitig immer wieder auf die jeweiligen Publikums-Trends abzustimmen.
So können ich selbst und andere Menschen einiges von dem realisieren, was ich mir in meiner Sturm- und -Drang-Zeit nur erträumte und bestenfalls ansatzweise übend praktiziert hatte.
"Setzen wir uns ein für die Methoden einer nachhaltigen Entwicklung..."
Die Zeichnungen (im Heft) sind aus dem Kalender 1995 der Paulo Freire Stichting (Arnhem) entnommen und für Holland und Lateinamerika gemacht. Angelika Klauth
"Ja, und dann wurde es plötzlich wichtig, was wir zu sagen hatten!"
Eine Skizze über praktizierte Gemeinwesenarbeit in Köln-Vingst
Bei den Vorüberlegungen, etwas über meine Erfahrungen mit Gemeinwesenarbeit bezüglich den von Freire entwickelten Ideen zu schreiben, wurden zunächst Erinnerungen aus meiner Studienzeit Anfang der 80er Jahre wach, in der ich mich sowohl mit Freire als auch mit Gemeinwesenarbeit beschäftigt habe.
Erste Assoziationen zu Freire waren: Humanisierung, Herrschaft und Unterdrückung aufbrechen, Bildungsprogramme in Lateinamerika, Alphabetisierung und politisches Theater (Boal).
Die deutsche Gemeinwesenarbeit (GWA) greift sicherlich u.a. auf Ansätze von Freire zurück, auch wenn sie in der aktuellen Diskussion nicht mehr auftauchen.
GWA-Begriffe wie Lebensweltbezug, Emanzipation, Solidarisierung, Einmischung, Gestaltung, Skandalisierung, Ansatz bei den Ressourcen und Kompetenzen der Menschen und bei den strukturellen Bedingungen haben einen nahen Bezug zu Humanisierung und Aufbrechen von Herrschaftsstrukturen und Unterdrückung.
Die GWA hat in den letzten 20 Jahren sehr gute Ansätze entwickelt und damit viele Erfolge gehabt. Aufgrund der sich verschärfenden sozialen Bedingungen wird es aber immer schwerer, Utopien zu entwickeln. Vielleicht k nnte hier die Diskussion ber Freire neue Impulse geben.
Ich arbeite seit 9 Jahren in der GWA und möchte zunächst einige Sätze zu dem Menschenbild, das meiner beruflichen Praxis zugrunde liegt, und im weiteren Verlauf etwas ber die praktische Umsetzung sagen.
Das Menschenbild, das meinen Vorstellungen von GWA zugrunde liegt, ist davon geprägt, Unterdrückung und Ausgrenzung nicht als unveränderbar hinzunehmen, die sogenannte Gesellschaft nicht zu akzeptieren und mich nicht damit ab zu finden, daß ein großer Teil unserer Gesellschaft - und dahinter stehen sehr viele Menschen - keine Perspektiven hat und in Armut und Arbeitslosigkeit verharren soll.
GWA geht von den Ressourcen und Kompetenzen der Menschen aus, d.h. da ich Menschen grunds tzlich mit hoher Wertschätzung entgegentrete. Jeder Mensch hat Ressourcen. Aus diesem Blickwinkel betrachte ich die Menschen als ExpertInnen ihrer Lebenssituation.
GWA sieht den Menschen als gesellschaftliches Wesen, das den Dialog mit anderen Menschen braucht. Daraus leite ich ab, da ich zum einen tatsächlich auf die Menschen, mit denen ich arbeite, direkt zu gehe und mich auf die Realität meines Gegenüber einlasse.
Zum anderen heißt dies, da ich mir die strukturellen Bedingungen und die vorhandenen Kommunikationsstrukturen ansehe und - sofern es sich nicht um Stabilisierung von Gewaltverhältnissen handelt - unterstütze.
GWA setzt bei den konkreten Alltagserfahrungen und an dem Ort, an dem die Menschen leben, an. Das bedeutet für mich als Gemeinwesenarbeiterin, daß ich konkrete Dienstleistungen im Stadtteil, in der Siedlung, anbiete und daß ich nicht versuche, theoretische Konzepte über zu stülpen.
Erfahrungsgemäß ist der Bewegungsradius in sozial-benachteiligten Stadtteilen sehr gering. In der Regel verlassen die Menschen ihren Stadtteil nicht und sind deshalb infrastrukturellen Mängeln in besonders starkem Maß ausgeliefert.
GWA hat zum Ziel, Menschen zur Gestaltung ihrer Umwelt zu aktivieren, sie mischt sich in politische Entscheidungen, die den Stadtteil betreffen, ein und skandalisiert negative Entwicklungen.
An dieser Stelle möchte ich konkrete Praxiserfahrungen anschließen.
Wir arbeiten in einem sozial-benachteiligten Stadtteil am Rande Kölns. Das Bild des Stadtteiles Vingst ist von sozialem Wohnungsbau geprägt, vornehmlich aus den 60er und 70er Jahren, es gibt einen alten Ortskern und es gibt mehrere Siedlungen, die als sozialer Brennpunkt bezeichnet werden können.
Letztere zeichnen sich durch miserable Wohnverhältnisse aus. Diese Siedlungen wurden vor 2 Jahren zum Sanierungsgebiet erklärt. Ein großes Problem besteht in der massiven Überbelegung der Häuser.
Die Wohnungen sind sehr klein, viele Familien haben nur ca. 40 qm zur Verfügung. Der Anteil an Kindern/Jugendlichen und Ausländerinnen ist sehr hoch. Es gibt auffallend viele psychische Kranke und Menschen mit Alkoholproblemen.
In dem städtischen Bericht zur Sanierung werden Versorgungs- und Kommunikationsdefizite sowie die geringe Beteiligung der BürgerInnen am Gemeinschaftsleben festgestellt.
In den ersten Jahren unserer Arbeit haben wir zun chst Angebote in Sozialberatung (Sozialhilfe, Arbeitslosenhilfe, Schulden) und bei Ämtergängen gemacht, desweiteren Bildungskurse (Deutsch und Alphabetisierung), Freizeitangebote (Nähen, Töpfern, Werken, Basteln, Musik, Foto/Video, Tischtennis, etc.) und Gesprächskreise, vornehmlich für Frauen.
Dem Thema "Wohnen" im Stadtteil, als klassischem Thema der GWA, haben wir uns vor 5 Jahren zugewandt. Angefangen haben wir, in Kooperation mit einem studentischen Projekt der Fachhochschule Köln, mit einer aktivierenden Befragung in einer der “Laubengangsiedlungen” aus den 50er Jahren.
Thema der Befragung waren die Mängel der Häuser und Fragen nach der Bereitschaft der BewohnerInnen, sich für die Beseitigung der Mängel einzusetzen. Im Vorfeld konnten wir in Erfahrung bringen, daß die Kommune grundsätzlich bereit war, einen Umbau der Häuser zu unterstützen und sich auch gegen ber GWA-Projekten kooperativ zeigte. Das größere Problem war die Wohnungsbaugesellschaft, der die Häuser gehörten.
Das Ergebnis der Befragung war eindeutig. Die Mängel waren erheblich. Sie reichten von Schimmel an den Wänden, über kaputte Fenster bis zu defekten Elektroinstallationen. Die Enge in den Wohnungen war bedrückend.
Es zeigte sich auch, daß Bereitschaft der BewohnerInnen, sich für eine Verbesserung einzusetzen, da war. Wir erfuhren, daß die Menschen sich innerhalb der Siedlung gut kennen, daß es neben allem Elend auch viel Nachbarschaftshilfe gibt und dadurch auch eine hohe Identifikation mit der Siedlung.
Durch unsere langjährige Tätigkeit im Stadtteil waren wir vielen BewohnerInnen bekannt und sie wußten, daß wir sie unterstützen würden. Eine detaillierte Beschreibung der Vorgänge würde an dieser Stelle zu weit führen. Ich möchte nur einige Ergebnisse kurz skizzieren.
Es folgten viele Bewohnerversammlungen, ein Mieterrat wurde gewählt, Versammlungen mit den zuständigen Entscheidungsträgern der Kommune und Wohnungsbaugesellschaft fanden statt und Presseberichte erschienen. Der Umbau der Häuser wurde beschlossen.
Menschen, die zeit ihres Lebens immer wieder die Erfahrung machen mußten, sie werden nicht gehört, ihre Ideen und Interessen zählen nicht, sie sind nicht wichtig genug, standen plötzlich in der Öffentlichkeit. Sie saßen mit Geschäftsführern und Amtsleitern an einem Tisch und wurden ernst genommen.
Baupläne wurden vorgelegt und die BewohnerInnen hatten die Möglichkeit, ihre Interessen einzubringen. Es folgte ein langwieriger Prozeß , der zeitweilig auch sehr mühsam war. Es zeigte sich, daß Einwirkungsmöglichkeiten der BewohnerInnen ihre Grenzen hatten, seitens Politik und Verwaltung gab es viele Sachzwänge und auch häufig Unverständnis.
Auf der anderen Seite ist es auch nicht leicht, demokratische Entscheidungsstrukturen innerhalb der Bewohnerschaft einzurichten und aufrechtzuerhalten. Den Kontakt zu den BewohnerInnen zu halten, die nicht zu den Aktiven zählen und dies über Jahre hinweg, gestaltet sich schwierig.
Als aktuelles Beispiel möchte ich hier anführen, daß die Mieten nach dem Umbau vermutlich sehr viel höher sein werden, als zunächst angenommen. Dies hat mit Landes- und Bundes- entscheidungen zu tun und mit der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die nicht vorhersehbar waren.
Für uns stellt sich aber das Problem, daß wir nicht mehr sicher sein können, ob wir die Interessen aller BewohnerInnen überhaupt noch einschätzen können. Zu der hohen Miete kommen Kürzungen der Sozialleistungen, Verschärfungen der Ausländergesetze und noch weiter steigende Arbeitslosigkeit.
Da eins der wichtigsten Prinzipien der GWA der Ansatz bei den Bedürfnissen der BewohnerInnen ist, sehen wir es als unsere Aufgabe an, die Bedürfnisse erneut zu erfragen und werden deshalb in naher Zukunft eine erneute Befragung durchführen.
Bei allen Schwierigkeiten, die in der konkreten Praxis auftauchen, bleibt aber bestehen, daß die Beteiligten Erfahrungen machen, die sehr wichtig sind. Hier möchte ich nur einige Punkte nennen:
- bei der Gestaltung der eigenen Lebenswelt eine aktive Rolle einnehmen
- etwas bewegen können
- mit politischen Entscheidungsträgern an einem Tisch sitzen
- Wissen über politische Abläufe erlangen
Alle diese Punkte führen zu einer Verringerung von Ohnmachtsgefühlen. Häufig wissen "Die da oben" gar nicht, was es bedeutet, arm zu sein, ausgegrenzt zu sein.
Viele wollen es auch gar nicht wissen. Wer aber die Erfahrung gemacht hat, wichtig zu sein, etwas zu sagen zu haben, schämt sich nicht mehr dafür, arm zu sein, sondern sagt, als ExpertIn der eigenen Lebenssituation, was es bedeutet, unter diesen Umständen zu leben und kann entsprechende Forderungen stellen.
Wer jahrelang unter miserablen Bedingungen gelebt hat, weiß am besten, was es bedeutet. Daß dies ein strukturelles Problem ist, gilt es ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.
Meine Rolle als Gemeinwesenarbeiterin beinhaltet die Initiierung und Begleitung von Gruppen.
Als Profi habe ich gruppen-methodische Kenntnisse, ich habe Kenntnisse über die Funktionsweise von Verwaltung und Politik, ich habe ein Büro mit PC und kann Briefe formulieren.
Dieses Wissen stelle ich zur Verfügung. Aber die Erarbeitung von Inhalten überlasse ich den Menschen, mit denen ich arbeite. Ich halte den Gruppenprozess in Gang und sehe mich als Moderatorin bei Gesprächen zwischen BewohnerInnen und Politik/Verwaltung. Meine Aufgabe ist es, Kommunikation in Gang zu setzen und zu halten.
Aber was die Menschen im Stadtteil für sich als Ziele formulieren, sei es der Umbau ihrer Häuser oder der fehlende Aldi, ist ihre Entscheidung.
Wenn ich anfangen würde, entscheiden zu wollen, wo es langgeht, würde ich alte Herrschaftsstrukturen wieder aufbauen und damit Ohnmachtserfahrungen wiederholen. Gerade die gilt es zu überwinden und neue Erfahrungen dagegenzusetzen.
Meine Rolle als Gemeinwesenarbeiterin ist aktivierend und beratend, aber nicht wissend, wohin es gehen wird.
Paulo Freire spricht bei seinen Rollenbeschreibungen von Lehrern und Schülern. Er meint aber, da die Lehrenden gleichzeitig Lernende sind und da sich sowohl LehrerInnen als auch SchülerInnen auf einen gemeinsamen Lernprozess einlassen, bei dem alle Beteiligten neue Erfahrungen machen können und niemand vorher genau weiß, was sich entwickeln wird. Die Parallele zur GWA ist nicht zu übersehen.
Die Menschen, die aktiv an den beschriebenen Umbauprozessen beteiligt waren und sind, haben neben den Verbesserungen ihrer Wohnung, kollektive Erfahrungen gemacht, die Ausgrenzungen von Schwächeren entgegenstehen.
Wer sich selbst kompetent fühlt, hat es nicht nötig, auf andere herab zusehen. Aus meiner Praxis weiß ich aber auch, daß diese Prozesse sehr langwierig sind.
Auch für die nicht aktiven BewohnerInnen gab es ganz konkrete Verbesserungen. Die umgebauten Häuser bieten viel mehr Wohnraum, es ist nicht mehr feucht, es gibt heile Fenster, das Stigma “Laubenganghaus” verschwand, um nur einige Beispiele zu nennen.
Bei allen Erfolgen scheint uns die gesellschaftliche Entwicklung zu überholen. Arbeitslosigkeit und Armut nehmen weiter zu, demgegenüber stehen Verringerung von sozialen Leistungen und immer stärker werdender Leistungsdruck.
Diese Entwicklung wird zu weiteren Ausgrenzungen und damit weiterer Individualisierung führen. Ich halte unsere Arbeit für wichtig und richtungsweisend, aber sie braucht Zeit und ich habe den Eindruck, so schnell, wie sich die Bedingungen z.Zt. verschlechtern, können wir gar nicht handeln.
Ich denke, da es an diesem Punkt als Gemeinwesenarbeiterin immer wichtiger wird, selbst Position zu beziehen. Missstände anzuprangern und in die Öffentlichkeit zu tragen.
Um zeitgemäße Strategien zu entwickeln, ist der Austausch und die Zusammenarbeit mit KollegInnen, im Team und auch außerhalb, äußerst wichtig. Es geht darum, Erfahrungen auszutauschen, gesellschaftliche Veränderungen und ihre Auswirkungen zu analysieren und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.
Ein weiteres wichtiges Instrument stellt für mich Supervision dar. Hier können Konflikte persönlicher wie auch struktureller Art geklärt werden, die mich ansonsten in meiner Arbeitsfähigkeit behindern könnten.
Angelika Klauth
Erster Aufbruch während meiner Zeit in Jugendgruppen. Ich entwickle eine erste Idee dazu, daß Werte und Konventionen veränderbar sind. Während des Studiums finde ich viele Gleichgesinnte, die genau wie ich verkrustete Institutionen ablehnen, basisdemokratisch- orientierte Projekte initiieren wollen und ihre Arbeit als politische Arbeit begreifen.
Wichtige Stationen: Friedensbewegung, Theaterarbeit, Professionalisierung meiner beruflichen Tätigkeit, Supervisionsausbildung. Mein Leben sehe ich als Prozeß, bei dem es darum geht, mir immer mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu schaffen, meine Ideen an andere Menschen weiterzugeben und gemeinsam weitere Möglichkeiten zu suchen.
Rainer Kascha:
Verdam ... wenigstens haben wir es probiert
- zu Umbrüchen soziokultureller Zentren im Gemeinwesen -
Wie der Titel, so stand es als großer gesprühter Schriftzug vor jetzt zehn, elf Jahren an der Wand (wenn man reinkommt rechts) im großen Tanz- und Veranstaltungssaal des Wuppertaler Kommunikationszentrums "die börse" e.V.
Was war geschehen?
Im Herbst 1983 endete in dieser Einrichtung (vorerst?) der Versuch, eine breit angelegte Alternative in Kultur, Politik und Ökonomie zur herrschenden Gesellschaftsordnung zu schaffen. Übrig bleibt ein Haus mit großem Namen und modernem Kulturbetrieb, das in der regionalen und städtischen Angebots palette seine spezifischen Dienste leistet.
A.
Sie kommen in die Jahre, die "soziokulturellen Zentren", so wie sie heute heißen, und zu denen auch die Wuppertaler Einrichtung gehört. Zwanzig Jahre und mehr sind die Häuser alt, die noch existieren. Viele Initiativen konnten ihre Häuser kein Jahr lang halten, manche scheiterten nach jahrelangem Trotzen (wie das Duisburger Eschhaus 1987) und die meisten Initiativen erreichten erst gar kein Haus.
Es war zur Zeit der frühen siebziger Jahre, die noch unter dem starken Einfluß der 60er Jahre Bewegungen und Innovationen weltweit standen:
Zum einen internationale Raumfahrt, globale Telekommunikation, die Beatles, der Krieg zwischen USA und Vietnam und internationales, meist: westliches, meint: anglo-amerikanisches Flair; zum anderen: die (meist) anglo-amerikanischen Subkulturen (Mods, Rocker, Beat, Gammler, Hippies, Provos, Dolle Minnas, Kabouters...).
Die "Neue Musik" war nicht nur Pop-Kultur; Jerry Rubin schrieb "Do it!" (1971), Saul D. Alinsky's "Rules for Radicals - A Practical Primer for Realistic Radicals" wurde 1974 "Die Stunde der Radikalen", ein Jahr vorher (1973) erschien "Pädagogik der Unterdrückten" von Paulo Freire und das Wort "Konsumverzicht" (Rudi Dutschke) war noch in vielen Ohren.
An vielen Orten zeitgleich entstand, vornehmlich bei (männlichen) Jugendlichen der Drang nach eigenen öffentlichen Räumen als Ausgangsbasis für ein freies, da selbst bestimmtes Leben.
Hier sollte sowohl die Rezeption des inter nationalen Angebotes (Musik, Film,Drogen, Texte etc.) als auch eigene Gestaltung, "Selbstverwaltung" stattfinden.
Die "Jugendzentrumsbewegung" war geboren und hinterließ eine Reihe von Impulsen, u.a. die "soziokulturellen Zentren". In dieser Aufbruchstimmung mit ihrem spezifischen Gründerfieber (Kommunen, Kooperativen, Wohngemeinschaften, Bands, Theater- und Mediengruppen, Arbeitsgemeinschaften, Plenen, Initiativen kultureller und politischer Natur) bestand die folgende Gründungsphantasie:
"... die Begegnung von Menschen aller Berufsgruppen, aller Altersgruppen und sozialen Schichten zu ermöglichen, Kritikfähigkeit, Initiative und kreative Betätigung anzuregen und soziales Verhalten zu fördern ..." (§ 2.2 der Vereinssatzung des Kommunikationszentrums Wuppertal).
Leitbegriffe, die sich auf einen zu fördern den Menschentyp, auf das Menschenbild richteten, sind Emanzipation und Mündigkeit, die im Prozeß von Selbstorganisation und Selbstverwaltung entstehen. Selbsttätigkeit und autodidaktische Verläufe kennzeichnen die ansonsten verpönte Pädagogik.
Diese Phantasie versuchte einer Vielfalt von Menschenbildern, auch höchst widersprüchlichen, gerecht zu werden.
Der Platz reicht hier nicht, um die unterschiedlichen kreativen, politischen und sozialen Menschenbilder in ihren weiblichen und männlichen Ausprägungen, undogmatischen und dogmatischen Formen, in ihren dialogischen oder autoritären Charakteren zu zeichnen. Nur -das Ende sei hier vorweggenommen: Die Gründungsphantasie scheiterte!
B.
Natürlich scheiterte sie an einer mächtigen Gesellschaft, in deren Mitte sie versuchte, zu gedeihen. Denn
- GSG 9 in Mogadischu und das zeitgleiche Niederbrennen der "börse" an der Viehhofstraße in Wuppertal (17./ 18.Oktober 1977),
- Westliche Rezession und Massenarbeitslosigkeit, auch unter Wuppertaler Jugendlichen
- die Auswirkungen des "Radikalenerlaßes" und auch
- der direkte und ständige Schimpf als "Haschhöhle", "Terroristensumpf", "Chaotentreff" ließen die Phantasie erlahmen.
Natürlich scheiterte sie auch an eigenen, inneren Ursachen (das Scheitern an sich selber):
1. Es gelang nicht, die unterschiedlichen Gruppierungen mit ihren Egoismen und Dogmen, mit ihren Einzelinteressen in einem solchen Zentrum langfristig zum Ausgleich zu bringen:
viele Fraktionen und Friktionen nutzten das Zentrum zu ihrer eigenen Konsolidierung, um dann auszuziehen, um ihr "Eigenes Ding" zu machen (Seniorenschutzbund, Frauengruppen, Bands, Zeitungsprojekte, Autonome Gruppen ...)
Im Verlauf der 70er Jahre verschärfte sich das Klima. Diskussion und Diskurs wurden zunehmend von Provokation und Sabotage verdrängt. Eine Harmonisierung von Widersprüchen, die zunahmen, gelang weniger. Der Umgang wurde unversöhnlicher.
Es war ein genereller Schock, als ab Freitag, den 03. November 1978 (Anläßlich der Vorführung des Films "Nazis - gibt's die noch?" im Rahmen des 40. Gedenkens an die Reichspogromnacht versuchten Jugendliche, den Film aus dem Projektor zu reißen.
Sie scheiterten am entschlossenen Handeln der Besucher.) verstärkt jugendliche Aktivisten der "Jungen Nationaldemokraten" mit Provokationen bis zu militanten Angriffen die Einrichtung in Atem hielten und zur Ohnmacht, Vereinzelung und Entsolidarisierung beitrugen.
2. Viele Vorstellungen von einer "besseren Welt" und einem "Neuen Menschen" waren naiv und romantisch. Um jedoch überhaupt handlungs mächtig zu werden, mußten sie es aber wohl auch sein.
Wüßte man um das Scheitern, man würde sich nicht ernsthaft auf den Weg machen! Trotzdem ist es ja nicht verkehrt, aus diesen Fehlern lernen zu wollen und zu können:
"Hochmut kommt vor dem Fall" weiß der Volksmund und tatsächlich ging einher mit dem Gründungsfieber eine illusorische und somit gefährliche Selbstüberschätzung, einerseits.
Andererseits verleiht die Vision von Befreiung, die Utopie einer solidarischen und gerechten Welt Kräfte, die die Hybris nähren und den Menschen Kraft und Macht geben, um Ohnmacht und Unterdrückung zu überwinden, um ein vermeintliches Schicksal abzustreifen.
Der Weg zwischen "ohne den Glauben an deinen Sieg hast schon verloren" und "Ins offene Messer rennen" ist zweifellos verschlungen und schmal, aber - im Gründungsfieber hätte jede und jeder über Ikarus, Don Quichote und den Turmbau zu Babel gelacht, Viel zu weit weg erschien die Möglichkeit, unterlegen sein zu können, zu versagen.
C.
Nachdem wir es wenigstens probiert haben, blieb Resignation, Enttäuschung oder Ernüchterung. Vereinzelung war, entgegen der Gesellungsvorstellung der Gründungszeit, der Mainstream der 80er Jahre. Und einzeln waren dann auch Welt Vorstellungen und Menschenbilder:
a. (Verzweifelte) Integration ins "Normale"
- Ernüchterung, Vertagen, (Über)Anpassung, "kleine Brötchen backen", Versuche von normalen Berufs- und Familienleben etc.-
b. Opfer von Ausgrenzung und Verarmung
- sich fügen, sich abfinden, verzweifeln -
c. Flucht ins Irrationale
- Astrologie, Handlesen, Schicksal wird zentrales Deutungsmuster -
Die zentralen Leitbegriffe des Feldes "Soziokultur" bleiben Emanzipation, Mündigkeit, Kritikfähigkeit, Engagement und Kommunikation. Von wem diese Begriffe mit welchen Zielvorstellungen und Menschen bildern und -letztendlich- mit welcher Praxis jedoch belegt werden, ist abhängig von Zeitgeist und den jeweiligen Köpfen der jeweiligen (Jugend) Kulturen. Auf ihre Art versucht es jede Generation, so bleibt zu hoffen.
Fazit: Die Einrichtung "Soziokulturelles Zentrum" fungierte als Clearingstelle für Befreiungs-Utopien und -illusionen; für die Auswahl des Weges/der Wege zum Ziel und deren Scheitern.
Leider blieb die Verarbeitung des Scheiterns (meist) in den Einrichtungen selber aus. Wahrscheinlich verhält es sich hier wie mit einem Boxring: Die Wunden, die sich die Kontrahenten hier schlagen, werden fernab des Boxringes be handelt und auskuriert.
Um im Bild zu bleiben:
Viele Fights gingen die letzten zwei Jahrzehnte verloren. Die K.O.'s sind kaum zu zählen, die Demütigung des Ausgezählt-werdens sitzt tief, und dies alles hat grausame Narben und fürchterliche Verwundungen hinterlassen - but the show must go on, gerade im Kulturbetrieb.
Sollte Befreiung ein Generationsthema sein und bleiben, so sei mit Florian Geyer's Haufen leise gesungen: .."geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten's einmal besser aus!"
Nachtrag:
Mittlerweile ist ebenfalls Befreiung ein Begriff, der von konservativen und nationalistischen Tönen durchsetzt wird. Kein Wort mehr von Chancengleichheit und der Vision vom mündigen Bürger.
Im Stillen machen sich breit das Wort von der "Überfremdung" und der Befreiung davon, der "Produktionskostenentlastung" und dem damit gemeinten Personalabbau verbunden mit ständiger, hoher Arbeitslosigkeit und um sich greifender Verarmung, das Wort vom "Umbau des Sozialstaats" und daraus resultierender Rückzug aus dem Solidarprinzip (geringerer Hilfe und Unterstützung).
Rainer Kascha
Erste zeitgeschichtliche Erinnerung ("Politisches Erwachen"): Der Zusteller für die katholische Monatszeitschrift in meinem Geburtsstädtchen während der sechziger Jahre war ich.
Dreizehnjährig, beim monatlichen Kassieren, fragte mich ein hoher Beamter, dessen Frau ich nur sonst kannte, aber dieses Mal nicht da war: "Junger Mann, sind Sie Kommunist?"
Auf meine schüchterne Frage nach dem Wieso, antwortete er: "Wer seine Haare lang trägt, ist Kommunist!" Ich hatte gerade gegen meine Eltern durchgesetzt, daß meine Haare an die Ohren stoßen durften und natürlich gefiel es mir und machte mich stark, daß das alleine diese Honoration offensichtlich bedrohte.
Wichtige Stationen der Berufsbiographie:
* nach dem universitären Abschluß als Diplom-Pädagoge an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
* 1977 Wuppertaler Kommuniaktionszentrum "die börse" e.V.
* 1985 Duisburger Jugend- und Kulturzentrum "Eschhaus" e.V.
* seit 1989 Paritätischer Wohlfahrtsverband NW e.V., Mitarbeiter des Paritätischen Jugendwerks NW
Mit welchem Bild beschreibe ich meine Rolle in der beruflichen Praxis:
"Der Aufzug fahrende Dolmetscher mit den Konvertierungsprogrammen für alle Typen im Gepäck"
Andreas Baumgärtner
Du sollst dir (k)ein Bildnis machen.
Einige Gedanken zum Menschenbild in der Gemeinwesenarbeit
"Du bist nicht", sagte der Enttäuschte oder die Enttäuschte: "wofür ich dich gehalten habe." Und wofür hat man sich denn gehalten?
Für ein Geheimnis, das der Mensch ja immerhin ist, ein erregendes Rätsel, das auszuhalten wir müde sind. Man macht sich ein Bildnis. Das ist das Lieblose, der Verrat. 1
Das ist eine Möglichkeit.
Die andere:
"Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, "wenn Sie einen Menschen lieben?" "Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K., "und sorge, daß er ihm ähnlich wird." "Wer? Der Entwurf?" "Nein", sagt Herr K., "der Mensch."2
Du sollst dir kein Bildnis machen - sagt Max Frisch. (Ich präzisiere: Kein starres, festlegendes Bildnis des Menschen in individuellen Beziehungen.)
Der Mensch braucht einen Entwurf - sagt Bertold Brecht. (Und wieder präzisiere ich: Einen Entwurf seiner selbst und einer gesellschaftlichen Utopie.)
Und jetzt einige Gedanken zum Menschenbild in der Gemeinwesenarbeit formulieren?
Zunächst heißt es also, daß ich mich einordnen und eine Position beziehen muß. Genauer: die Pole benennen, zwischen denen ein Kontinuum herrscht, auf dem ich mich positioniere. Beides besagt: Es gibt kein neutrales Menschenbild. Es gibt keine neutrale Erziehung und soziale Arbeit. Stets und immer verhalte ich mich und handle ich vor dem Hintergrund einer gewußten oder auch nicht gewußten Theorie bzw. eines Werte- und Normensystems.
Dies sehe ich als Prämisse an und möchte im folgenden das Thema "Menschenbild in der Gemeinwesenarbeit" in drei Aspekten betrachten.
Am Anfang steht ein kleiner Ausflug zu den Ursprüngen der deutschen Gemeinwesenarbeit. Sie weisen zurück in die Zeit der Frühindustrialisierung, in der vor allem in England und in den USA erste "settlements" gegründet wurden.
Einer der deutschen Protagonisten, Friedrich Siegmund-Schultze, stellt in den zwanziger Jahren drei Begriffe in den Vordergrund der Nachbarschaftsarbeit: Gerechtigkeit - Frieden - Treue.
Anschließend will ich versuchen, u.a. aus der Sicht des Lebenswelt-Ansatzes und der Kritischen Psychologie anthropologische Grundlagen für Gemeinwesenarbeit zu skizzieren. Hier werden u.a. die Begriffe von orientierender und begreifender Erkenntnis entfaltet.
Schließlich soll die Bedeutung des Dialoges in der Pädagogik von Paulo Freire als spezifische Haltung für und von Gemeinwesenarbeit 3 dargestellt werden.
Ursprünge der Gemeinwesenarbeit
Die Traditionslinien bundesdeutscher Gemeinwesenarbeit weisen auf die sogenannte Settlement-Bewegung aus der Zeit der Frühindustrialisierung in England und in den USA zurück.
Es waren vor allem Akademiker und Studenten, die aus humanitären und religiösen Motiven und unter dem Einfluß der gesellschaftlichen Verhältnisse settlements - Nachbarschafts- und Hilfezentren - aufbauten.
1867 war es Edward Dennison, der in die Armenviertel Ost-Londons zog, 1875 Arnold Toynbee. Im Jahre 1884 wurden die ersten settlements gegründet: Toynbee Hall und Oxford House, Die Lebenssituation war durch äußerste soziale Not und Ausbeutung gekennzeichnet. Wer kennt nicht den Klassiker von Friedrich Engels "Die Lage der arbeitenden Klasse in England".
Auch in den USA wurden ähnliche Einrichtungen gegründet. 1886 war es Stanton Croit in New York, später Jane Addams mit dem Hull-House in Chicago. Das South-End-House in Boston und viele andere Häuser folgten. 4
Einer der Protagonisten der frühen deut schen Gemeinwesenarbeit war der Theologe und ehemalige Pfarrer Friedrich Siegmund-Schultze. Auf ihn geht die Gründung der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost zurück, die wichtige Impulse für die Nachbarschaftsarbeit gegeben hat.
Zusammen mit seiner Familie zog er 1911 in die Arbeiterviertel des Berliner Ostens. In einem Vortrag aus dem Jahre 1922 sagt er 5 : "Das erste Ziel , das ich mir stellte, als ich mit meiner Familie und einigen Freunden ins Arbeiterviertel von Berlin Ost zog, war: die Wirklichkeit kennen zu lernen." Ihm ging es also nicht darum, irgendwelche Hilfsangebote oder pädagogische Konzepte zu bringen!
Das zweite Ziel der Arbeit der Settler war dann: " ... die Änderung der traurigen, fluchwürdigen Zustände". Nicht die Änderung der Menschen, aber die Änderung der Zustände zusammen mit den Menschen war das Ziel. Siegmund-Schultze nennt drei Leitlinien für nachbarschaftliches Arbeiten:
Gerechtigkeit. Die Wirklichkeit zu sehen, bedeutete für die Settler zu sehen, daß in dieser Wirklichkeit nicht alles "in Ordnung" war. Die Arbeit und ihre Erfahrun gen haben bewirkt, daß sie entschlossen waren, "für eine andere Ordnung der Dinge" einzutreten.
Frieden. "Es muß hinzukommen der Sinn für Frieden ... die Bereitschaft, dem anderen nahezukommen, ihn nicht mehr von oben herab zu behandeln, sondern von unten her zu verstehen und zu gewinnen."
Treue. "Keiner, der uns braucht, darf vergeblich zu uns kommen. Keiner, dem wir einmal nahe kommen durften, darf uns aus den Augen kommen. Keiner darf uns mehr interessant sein als lieb ... Und durch diese Treue entstehen dann Zusammenhänge zwischen mir und meinem Nachbarn ..." schreibt Siegmund-Schultze.
Die Worte von Friedrich Siegmund Schultze sind uns in unserer "professionellen" Sprache sicherlich sehr fremd geworden. Sie verkörpern jedoch eine Haltung, die meiner Ansicht nach unveränderte Voraussetzung dafür ist, Nachbarschaften als ein solidarisches Netz zu knüpfen.
Und eine wesentliche Aufgabe von Gemeinwesenarbeit ist es ja, solidarische Netze zwischen Menschen zu knüpfen - als ein Beitrag gegen Ausgrenzungs- und Spaltungsprozesse in unserer Gesellschaft.
Das Lebensweltkonzept in der Gemeinwesenarbeit
Gemeinwesenarbeit bezieht sich nicht wie eine "klassische" Sozialarbeit auf einzelne Menschen und Gruppen, sondern auf soziale Räume und nimmt Lebenslagen in den Blick. In bezug auf das Menschenbild folgt hieraus, daß nicht primär Aspekte und Kategorien der Persönlichkeitsstruktur im Vordergrund stehen, sondern soziale Bedingungen.
Die Frage nach dem Menschenbild in der Gemeinwesenarbeit ist daher eine Frage nach der sozialen Organisation im Leben der Menschen. Nicht nur für die Gemeinwesenarbeit handelt es sich hierbei um eine zentrale Frage. Inwieweit bestimmen die gesellschaftlichen Verhältnisse das Umfeld und das Handeln der Menschen und wie wird Eigentätigkeit der Menschen erfaßt? Menschen wirken auf ihre Umwelt ein, produzieren, reproduzieren und verändern sie.
Das Lebensweltkonzept gibt der Gemeinwesenarbeit fruchtbare Anregungen, indem es dazu beiträgt, "die Verschränkung subjekt hafter Aktivität und objekthafter Umstände (...) zu erfassen" 6 . Noch in den 70-er Jahren und in einer ersten Hochphase der Gemeinwesenarbeit in Deutschland war nur mehr von der Bestimmung des Menschen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse die Rede.
Lebenswelt stellt einen Horizont dar, innerhalb dessen Menschen denken, handeln, fühlen, sich bewegen usw. Sie umfaßt - verkürzt - die Art und Weise der Gestaltung meines Lebens und ist auch biographisch geprägt.
Lebenswelt ist zugleich jedoch durch gesellschaftliche Strukturen und deren Wandel -zeitgeschichtlich - begrenzt und beeinflußt. Da sind an erster Stelle natürlich die Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft zu nennen:
Tauschverhältnisse, Konkurrenz und Warendenken mit ihrer Wirkung bis in private, intime Beziehungen hinein. Juristische und politische Bedingungen bzw. Entwicklungen manifestieren sich auf kleinräumiger, kommunaler Ebene in Sozialplanung, Wohnungspolitik, Infrastruktur usw. und beeinflussen lebensweltliche Möglichkeiten. Auch Medienpolitik und ver öffentliche Meinung nehmen ebenfalls als strukturelle Größen Einfluß auf Lebenswelt.
In die fachlichen Debatte innerhalb der Gemeinwesenarbeit fanden vor allem die von Jürgen Habermas hierfür geprägten Begriffe von "System und Lebenswelt" sowie "Kolonialisierung der Lebenswelt" 7 Eingang. Letzterer beschreibt die "Übergriffe" des Systems in die Lebenswelt:, z.B. in Form der Steuerungsmechanismen durch Geld und Recht.
Ebenso umfaßt Kolonialisierung von Lebenswelt das Eindringen von ExpertInnen in eine Lebenswelt. Auch Gemeinwesenarbeit unterliegt dieser Gefahr, indem sie in kleinräumigen, sozialen Bezügen vorhandene Lebens- und Alltagsweisen der Menschen z.B. theoretisch überhöht und zugleich entwertet, indem die Selbstdeutungen betroffener Menschen als lückenhaft, naiv, reaktionär usw. beschrieben werden.
Lebenswelt beschreibt "Wirklichkeit" vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichsten Bedeutungen und inhaltlichen Ausgestaltung in der Philosophie, den Sozialwissenschaften und der Pädagogik nicht nur als interpretierte, sondern auch von Menschen handelnd hergestellte Wirklichkeit.
Wir sind eingebunden in einen sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Kontext , den wir - lebensgeschichtlich geprägt - subjektiv aufnehmen und verarbeiten. Die Umwelt wirkt auf uns, unser Leben und unsere Lebensgestaltung ein, zugleich aber beeinflussen, verändern und gestalten wir unsere Umwelt. Der Mensch ist als kulturelles Wesen Schöpfer seiner Geschichte und damit ein Wesen der Praxis.
Insbesondere die Kritische Psychologie 8 beschreibt Lebenswelt als einen Möglichkeitsraum und hebt das permanente Vorhandensein von Handlungsalternativen hervor. Der Mensch ist ein Wesen der Entscheidung.
Oelschlägel u.a. sprechen von einem "Verhältnis von Behinderungen und Möglichkeiten menschlichen Handelns" 9 . Ein zentrales Ziel von Gemeinwesenarbeit ist es vor diesem Hintergrund, in Wohnquartieren usw. eine Vielzahl von "Möglichkeitsräumen" für politisches, kulturelles und soziales Handeln zu schaffen.
Zielfindungsprozesse innerhalb dieser Gemeinwesenarbeit sind dialogische Prozesse mit allen beteiligten Akteuren. Sie geht nicht von abstrakten Zielbeschreibungen aus, sondern taucht in die Wirklichkeit der Menschen ein und fragt nach deren Befindlichkeiten, Selbstdeutungen, Problemen und Visionen (usw.).
Gemeinwesenarbeit fragt "nach den objektiv vorhandenen Lebensumständen und nach den subjektiv vorhandenen Einfluß- und Veränderungsmöglichkeiten"10 der Menschen. Die Menschen selbst - in einem Wohnquartier usw. - sind dabei die Expertinnen ihrer Lebenswelt, mit allen Einschränkungen, Begrenztheiten und Naivitäten. Dies gilt es anzunehmen.
Gemeinwesenarbeit trägt über die Schaffung von "Möglichkeitsräumen" und z.T. auch einfachen nützlichen Dienstleistungen (Beratungsangebote, Mittagstische, Kleiderbörse usw.) dazu bei, das Erleben der Menschen, ihre Erfahrungen und Erkenntnisse aufzunehmen und zu erweitern.
Gemeinwesenarbeit ist - theoretisch formuliert - ein Arbeitsansatz, der zur Reflexion über alltägliches und lebensgeschichtlich erworbenes Wissen, Verhalten und Handeln beiträgt. Sie leistet gemeinsam mit den betroffenen Menschen eine Aufklärung über die Bedingungen dieses Verhaltens und Handelns in Aktion und Reflexion.
Gemeinwesenarbeit ist individuelle und solidarische Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen von Menschen über subjektive und systemische Grenzen hinaus.
Und konkret? Stadtteilzeitungen, Bürgerversammlungen, (kommunal-) politische Einflußnahme und Öffentlichkeitsarbeit, Stadtteilkonferenzen, Netzwerke, Selbsthilfegrup pen, multikulturelle Feste, Geschichtskreise, Beratungsangebote, Kulturarbeit, Vermittlungsdienste, Seniorengenossenschaften, Kindergruppen, Treffpunkte ...
Im Mittelpunkt steht der einzelne Mensch.
Freire und Gemeinwesenarbeit
Die Übereinstimmungen zwischen den Anliegen der Gemeinwesenarbeit und den Ansätzen der befreienden Bildungskonzeption von Paulo Freire sind an vielen Stellen nachzuweisen. Beide orientieren sich an Emanzipation und sind handlungs- und kommunikationsorientiert. Weiterhin sehe ich große Überschneidungen in der gesellschaftlichen Analyse von Abhängigkeitsbeziehungen und Unterdrückungsstrukturen sowie in den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen.
Freires Begriffe des "thematischen Universums" und der "generativen Themen" 11 fügen sich nahtlos in das Lebensweltkonzept der Gemeinwesenarbeit ein und können es durch ihre Prägnanz und Klarheit bereichern.
Paulo Freires Konzeption einer befreienden Praxis und die Gemeinwesenarbeit streben - wenn auch mit je unterschiedlichen Begriffen - Bewusstseinsbildung an und haben das Ziel, Unterdrückung aufzuheben. Gemeinsames Ziel ist es, dem Menschen zur Verwirklichung seiner vollen anthropologischen Bestimmung zu verhelfen.
Einen besonderen Beitrag der Freire’schen Pädagogik für die Gemeinwesenarbeit und im Hinblick auf ihr Menschenbild sehe ich der besonderen Haltung ihrer ProtagonistInnen.
Paulo Freire hebt in seinen Veröffentlichungen und in seiner Praxis das Wesen des Dialoges hervor. Er läßt ein Menschenbild lebendig werden, das durch spezifische Haltungen geprägt ist, die religiös motiviert, aber in ihrer Ausdeutung religionsunabhängig sind 12 :
Liebe. Ohne Liebe gibt es keinen Dialog. Liebe ist radikal, denn ihr Ziel ist die Befreiung von Unterdrückung, Entfremdung und Ausbeutung. Sie ist realistisch in dem Sinne, als sie an die noch nicht verwirklichten Anteile im Leben glaubt und zu ihrer Verwirklichung beiträgt.
Demut. Ohne Wertschätzung, Wohlwollen, Bescheidenheit und das Wissen um die Grenzen meines Wissens, Verstehens und Handelns gibt es keinen Dialog.
Glauben. Der Glaube an die Macht und die Fähigkeit, Neues zu schaffen und "voller Mensch" zu werden ermöglicht erst Verän derung und Zuversicht.
Hoffnung. Hoffnung heißt, das Suchen zu akzeptieren und darin Wege zu sehen, aus der Unvollkommenheit des Menschen zu gelangen. Hoffnung ist als gemeinsamer Prozess des Suchens solidarisch.
Kritisches Denken. Wirklichkeit wird als Prozeß erfaßt, ist historisch und an Verän derung orientiert. Kritisches Denken begnügt sich nicht mit dem, was ist, sondern sucht und fragt danach, was sein kann. Kritisches Denken benennt, es verschleiert nicht.
Der Mensch ist ein Wesen des Dialoges.
Hier können wir für die Gemeinwesenarbeit noch eine ganze Menge lernen: in unserer Rolle als Professionelle und in der Gestaltung unserer täglichen Arbeit mit den Menschen. "Die erste Bedingung für eine solche Arbeit ist, sich selbst zu entwissenschaftlichen, um wieder neu zu wissen.
Dann muß man erstens zuhören, zweitens zuhören, drittens zuhören, viertens weiter zuhören, dann in einem bestimmten Moment durch zuhören etwas sagen.
Deine unmittelbare Erfahrung sagt dir, wann du anfangen kannst, etwas zu sagen. Wenn z.B. das tägliche Leben der Menschen für dich aufhört, etwas ganz fremdes zu sein, dann bist du 'vom Wasser der Leute naß geworden', das ist dann der Augenblick, in dem du anfangen kannst, etwas zu sagen ..." 13
Hier werden der Dialog und die Bescheidenheit über unsere Rolle lebendig und hier offenbart sich eine Risikobereitschaft, die in unserer Arbeit und in unserem Leben notwendig ist, um tatsächlich etwas Neues zu erleben und zu erfahren.
Gemeinwesenarbeit ist spannend. Und sie ist eine "Zu-Mutung".
Anmerkungen:
1) Max Frisch: Du sollst Dir kein Bildnis machen; In: Tagebuch 1946-1949, Frankfurt/M. 1950; S. 26-28
2) Bertolt Brecht: Wenn Herr K. einen Menschen liebte; In: Gesammelte Werke, Bd. 12, Ffm 1967, S. 386
3) Gemeinwesenarbeit will ich - in aller Kürze - unter fünf Aspekten zusammenfassen:
* theoretische und praktische Orientierung an der Lebensweise und Kultur der Menschen in einem Gemeinwesen
* generations- und zielgruppenübergreifende Orien- tierung der Arbeit
* methodenintegrativer Ansatz mit der Verbindung von sozialer und kultureller, d.h. auch künstlerischer Arbeit
* Betonung der Eigenaktivität und der Handlungsmöglichkeit der Menschen
* Einmischung in lokale Politik
Siehe hierzu u.a. Baumgärtner/Oelschlägel/Weber: Dokumentation der Konzeptionsphase der Berufsbegleitenden Fortbildung für haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiterinnen aus sozial-kulturellen Einrichtungen; Köln 1995
4) Siehe hierzu u.a. C. W. Müller: Wie Helfen zum Beruf wurde. Bd. 1: Eine Methodengeschichte der Sozialarbeit 1883-1945, Weinheim und Basel 1988 sowie Silvia Staub-Bernasconi: Soziale Arbeit und Ökologie 100 Jahre vor der ökologischen Wende. Ein Vergleich der theoretischen Beiträge von Jane Addams (160-1935) und Wolf Rainer Wendt (1982); In: Neue Praxis, 19 (1989), Heft 4, S. 283-309
5) Ich zitiere nachfolgend aus: Dieter Oelschlägel: Neu entdeckt: Die Nachbarschaft -unerschlossene Ressource sozial-kultureller Energie. Festrede zum 40-jährigen Verbandsjubiläum. In: Rundbrief des Verband für sozial- kulturelle Arbeit e.V., 27 (1991), Sondernummer, S. ¾
6) Wolf Rainer Wendt: Die ökologische Aufgabe - Haushalten im Lebenszusammenhang; In: Mühlum/Olschowy/Oppl/ Wendt: Umwelt, Lebenswelt. Beiträge zu Theorie und Praxis ökosozialer Arbeit, Frankfurt 1986, S. 7-84
7) Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1+2; Frankfurt/M., II-293 ff
8) u.a. Holzkamp: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M. 1983
9) u.a. Dieter Oelschlägel: Zum aktuellen Stand fach- wissenschaftlicher Diskussion in der sozial-kulturellen und in der Gemeinwesenarbeit; In: Baumgärtner/ Oelschlägel/Weber:
Dokumentation zur Konzeptionsphase (...), Köln: 1995, S. 3 ff
10) Karl-Heinz Braun: Wie können Erziehungsziele in der Sozialarbeit begründet werden? In: Fortschrittliche Wissenschaft, 16 (1986), Hf. 3, S. 22-36
11) u.a. Paulo Freire: Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 84 ff
12) ebd. S. 71 ff.
13) Paulo Freire; In: Dabisch/Schulze (Hrsg.) Befreiung und Menschlichkeit, München 1992, S. 15/16
Andreas Baumgärtner
* Eine erste zeitgeschichtliche Erinnerung geht zurück an eine massive Auseinandersetzung im Elternhaus - am Niederrhein - über ein Plakat meines älteren Bruders vom SDS. Es zeigt Marx, Engels und Lenin mit der Unterzeile: "Alle reden vom Wetter - Wir nicht." Das war für meine Eltern eine ungeheuerliche Provokation. Und dann im Fernsehen die Studentenaufstände zu sehen und die Ermordung von Benno Ohnesorg.
* Wendepunkte? Zuletzt der Umzug von Wuppertal nach Detmold vor zwei Jahren: Wechsel von der Stadt aufs Land, Heirat und Beginn selbständiger Tätigkeit nach vielen Jahren hauptamtlicher Arbeit in einem Nachbarschaftsheim.
Wichtige Stationen waren das Studium in Düsseldorf, Zeiten der Wohngemeinschaft und studentischer Politik, auf jeden Fall die langjährige Arbeit in Wuppertal. Eine wichtige Erfahrung? Vielleicht, daß es immer auch andere Möglichkeiten gibt, als das, was ist.
* Da ich viel und gerne mit Theater zu tun habe, will ich das Bild des Regisseurs wählen - nicht des klassischen Regisseurs der Staatstheaterbetriebe, sondern dessen, der an wechselnden Spielorten arbeitet, nicht notwendig selbst auf der Bühne und erst recht nicht dauernd im Vordergrund steht, sondern hilft, Kreativität zu entfalten und zu gestalten.
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