Bewusstsein in Handeln ausdrücken: Jos Schnurrer in zfbp 1- 1995

Jos Schnurrer

"Die Methode als äußere Form.

Bewußtsein in Handeln ausdrücken."

- Die Pädagogik Paulo Freires und deren Adaption in Deutschland.

Hier soll die Rede sein von Paulo Freire. 

Der lateinamerikanische Pädagoge (geb. 1927) ist auch bei uns bekannt geworden mit seiner Konzeption des "Lernens wie man lernt". In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, als Rechtsanwalt und später Professor für Geschichte und Philosophie der Erziehung an der Universität Recife (Brasilien), Gastprofessor an der Harvard-Universität (USA) und Berater beim Ökumenischen Kirchenrat in Genf tätig, kämpfte er gegen die Benachteiligung vor allem der Menschen ohne Bildungsqualifikationen. 

Nach dem Militärputsch in Brasilien landet er im Gefängnis, und er muß dann das Land verlassen. Später kehrt er zurück und wird Schulreferent in Sao Paulo. 

Mit Alphabetisierungsprogrammen und mit Methoden, die die Lernenden, zuerst erwachsene Analphabeten, in den Lernprozeß aktiv einbeziehen, hat er Lernprojekte ausgearbeitet und erfolgreich erprobt. Das Geheimnis, das ja eigentlich nicht neu in der Lernpsychologie - aber leider viel zu oft, auch bei uns, vergessen wird - liegt darin, die Lernenden dazu zu bringen, ein Bewußtsein dafür zu entwickeln, warum sie lernen... Dieser Anspruch erfordert ein mitbestimmtes und schließlich selbstbestimmtes Lernbewußtsein.

Freires Pädagogik wie sein Leben sind geprägt vom Humanum der Hoffnung und von der Überzeugung, daß eine "befreiende Pädagogik" niemals neutral sein kann, sondern immer auch politisch ist. 

Die Konzeption der "Pädagogik der Unterdrückten" wurde im übrigen in den 60er Jahren von der UNESCO auch für die Alphabetisierungsprogramme in afrikanischen Ländern übernommen, als es darum ging, den seit Jahrtausenden überwiegend als mündliche Überlieferung gesprochenen Sprachen ein Schriftalphabet zu geben. 

In seinem Aufsatz "Briefe an eine junge Nation" (UNESCO-Kurier 6/1990, S. 27-30) schreibt er u.a.: "Ist die Alphabetisierung, wie jede Erziehung, ein politischer Akt, so ist sie auch eine Sache des Wissens. Das heißt, bei der Beziehung zwischen Erzieher und Schüler geht es immer auch um etwas, das man zu wissen wünscht".

Von Paulo Freire sind u.a. in deutscher Sprache erschienen:


* Pädagogik der Unterdrückten, Reinbek b. Hamburg, 1973
* Erziehung als Praxis der Freiheit, Stuttgart 1974
* Dialog als Prinzip, Stuttgart 1980
* Der Lehrer ist Politiker und Künstler, Reinbek, 1984
* Schule die Leben heißt, München 1986 (mit Frei Betto)
1994 ist u.a. Pedagogy of hope, New York erschienen.

In Deutschland hat sich seit 1994 die Paulo Freire Gesellschaft (damals München) zur Aufgabe gemacht, die "Freire-Pädagogik" bekannt zu machen und zur Umsetzung bei uns beizutragen, denn "seine Pädagogik der Unterdrückten" ist zum Inbegriff befreiender, emanzipatorischer Pädagogik nicht nur in der sog. Dritten Welt geworden". 

Wie kann das geschehen? In der PFG arbeiten über 100 aktive Mitglieder mit, die bundesweit Seminare zu Themen wie "Lernen mit Phantasie und Spaß" "Die Pädagogik Freires für Initiativen und Projekte" anbieten; Fachgruppen beschäftigen sich mit Themen wie "Theater-Methoden" und zwar nach der Konzeption Augusto Boals, "Befreiende Pädagogik im Drogenbereich" und "Globales Lernen - Entwicklungspolitische Bildungsarbeit"; in einer Reihe von Veröffentlichungen setzen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Vereins mit den Gedanken Freires auseinander und geben Anregungen zur Umsetzung der Freire-Pädagogik in konkretes (schulisches) Lernen, z.B.:


* Trudi und Heinz Schulze (HG.), Zukunftswerkstatt Kontinent - Volkserziehung in Lateinamerika. AG SPAK, München, 1989
* Joachim Dabisch/Heinz Schulze (Hg), Befreiung und Menschlichkeit
* Carstensen/Schroeder/Wörz (Hg.), Die Welt buchstabieren - Volkserziehung in Lateinamerika, Ausstellungskatalog, München 1992
* Joachim Dabisch, Die Pädagogik Paulo Freires im Schulsystem, Freiburg 1987
* Flavia Mädche, Kann Lernen wirklich FReude machen? Der Dialog in der Erziehungskonzeption von Paulo Freire, München 1995
* Inge Ruth Marcus/Trudi u. Heinz Schulze, Globales Lernen - Projekte, Prozesse - Perspektiven, München 1995

Die Paulo Freire Gesellschaft versteht sich selbst als "grenzüberschreitende zukunftsweisende Werkstatt". Sie setzt sich die folgenden Ziele:


- Realismus und konkrete Utopien verbinden
- Förderung von Wissenschaft und Forschung im Kontext befreiender Pädagogik
- Vernetzung bestehender Initiativen befreiender Pädagogik
- Forschung, Systematisierung und Verbreitung von Daten, Gedanken und Informationen über Bildung, Erziehung, Kultur und Kommunikation im Kontext befreiender Pädagogik
- Evaluierung bestehender Projekte
- Angebote für Beratungsarbeit unterbreiten...

Dazu gibt der Verein auch die 4 x jährlich erscheinende "Zeitschrift für befreiende Pädagogik" heraus. Der verantwortliche Redakteur analysiert z.B. in der Ausgabe Juni 1995 die aktuelle schulische Situation, indem er feststellt: 

"Nach einer Zeit des Stillstandes hat seit geraumer Zeit eine Welle neuer Reformen begonnen. Nicht mehr die Inseln festgefügter Reformansätze von Freinet, Montessori, Steiner, Petersen, Neill, Lietz oder anderer herausragender Persönlichkeiten bilden die Grundlage von Veränderungen in der Schule, sondern ein buntes Kaleidoskop unterschiedlichster, zusammengesetzter Elemente..." 

In diesen Trend fügt sich die Freire-Pädagogik ein, weil sie "ein zusammengesetztes Spiel unterschiedlicher Ansätze aus den Bereichen Psychologie, Soziologie, Theologie, Wirtschaftslehre, Politik und Pädagogik" darstellt. Diese "neue autonome Schule", als ein Gemeinwesen mit "Lebens- und Erfahrungsraum" (von Hentig), sollte - und hier treffen sich die Forderungen der Freire-Anhänger mit den "Interkulturellen" -


- Interkulturelles Lernen ermöglichen
- das Lernen in der Nachbarschaft einüben
- für die zukünftige Berufsorientierung der Schülerinnen und Schüler sorgen
- die Integration Behindeter anbieten
- ein gefächertes Sprachenangebot bereitstellen und
- befähigen, mit der Freizeit sinnvoll und demokratisch umzugehen.

Die Freire-Pädagoginnen und Pädagogen verstehen sich als "Agenten für die Eine, humane Welt". Deshalb ist der Schritt von der Auseinandersetzung mit der Not der Menschen in den sog. Entwicklungsländern, hin zum Engagement in unsere Gesellschaft ganz klein; damit er begehbar wird, sind Einrichtungen wie die Paulo Freire Gesellschaft wichtig und hilfreich.

Jos Schnurrer, Dipl.-Päd. Dezernent im Niedersächsischen Landesinstitut für Lehrerfortbildung, Lehrerweiterbildung und Unterrichtsforschung (NLI), Keßlerstr. 52, 31134 Hildesheim.





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